Das verbotene Glück der anderen
und hat, auch wenn er Schuhe trägt, etwas Barfüßiges.
Sai bleibt keuchend stehen. Er hat die Nase voll, und das macht Ousep froh. «Hören Sie», schreit der Junge, «ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen. Gar nichts. Das müssen Sie mir glauben. Unni starb, weil er traurig war. Einen tieferen Grund gibt es nicht. Falls es doch einen Grund gibt, dann sind Sie dieser Grund. Denken Sie mal darüber nach. Bei ihm zu Hause gibt es die meiste Zeit nichts zu essen. Seine Mutter bettelt jeden um Geld an. Unni hat sich nur mit anderen angefreundet, um bei ihnen zu Hause zu essen. Sein Schulgeld hat die Kirche bezahlt. Seine Mutter ist meschugge, und sein Vater ist ein Alkoholiker, der sich jeden Abend lächerlich macht. Hinzu kommt, dass Unni in MPC nicht sehr gut war. Er hatte ein Talent, das nichts taugt: Er konnte Comics zeichnen, die eigentlich nicht besonders witzig waren.»
«Was ist MPC?»
«Mathe-Physik-Chemie.»
«Aha.»
«Er hatte keine Zukunft und war ohne Hoffnung. Deshalb ist er runtergesprungen. Es wird Zeit, dass Sie sich damit abfinden. Es ist jetzt drei Jahre her. Sie müssen sich damit abfinden. Kümmern Sie sich lieber um Ihren anderen Sohn, sonst springt der auch noch irgendwo runter.»
«Sai, ich möchte nur eines wissen. Was habt ihr drei, du, Somen Pillai und Unni, zusammen gemacht?»
«Ich sag es Ihnen zum letzten Mal: nichts. Wir waren einfach drei Typen, die sich über alles Mögliche unterhalten haben.»
«Worüber?»
«Über gar nichts.»
Sai geht weg. Ousep verfolgt ihn bis zum Tor seines Hauses, dessen Wächter Anweisung hat, Ousep den Zutritt zu verweigern.
Am nächsten Morgen ist Ousep wieder an der Bushaltestelle. Kurze Zeit später taucht Sai auf, tut so, als habe er ihn nicht gesehen und stellt sich weit weg. Sai, der Irrtum im Trial-and-Error der Natur. Diesmal geht Ousep nicht zu ihm. Er steht mit starrem Blick da. Wahrscheinlich denkt Sai an die großartigen Abkürzungen, die sein Leben bestimmen – GRE, GMAT, CAT. Ohne Multiple-Choice-Prüfungen würde sein Leben stagnieren, er würde sich selbst nicht mehr verstehen. Selbst um einzusehen, dass er eine völlige Null ist, braucht er diese Prüfungen.
Du musst begreifen, Unni, dass du in einer Welt voller Sai Shankarans der König gewesen wärest, wenn du nur gewartet hättest. Sieh dir Sai an – er weiß nicht, warum er lebt, lebt aber dennoch, und zwar, weil er nicht weiß, warum er sterben muss. Er wird so weitermachen, sich mit seinem Kleinkram beschäftigen, kleine Siege erleben, eine Moral anerkennen, die andere erfunden haben, insgeheim die Ideologien drittklassiger Männer befürworten und beim Abendessen ungewöhnliche Weltanschauungen zitieren, denen er und seinesgleichen immer das Leben schwer gemacht haben. Unni, wie kannst du zulassen, dass Sai Shankaran deine Geheimnisse hütet, dass er ein Stück deines Gedächtnisses in seinem beschränkten Kopf aufhebt und wartet, bis es verrottet ist?
~
Mythili bestreitet ja nicht, dass ihre Bitte außergewöhnlich ist, doch muss ihr Vater deshalb anfangen zu zittern und nach seiner Frau schreien? «Wie erziehst du eigentlich deine Tochter?», brüllt er.
«Was hat sie denn getan?», sagt Mutter in gespielt ängstlichem Ehefrauenton und bedeckt ihre 80 D mit dem Sari.
«Frag sie selber», sagt er und geht mit der Zeitung aufs Klo, als sei ein guter väterlicher Schiss der Schlüssel zu einer guten Erziehung.
Mutter hat sich als Friedensstifterin maskiert. Das gefällt ihr sehr. Endlich hat sie etwas zu tun.
«Was hast du deinem Vater erzählt?»
«Dass ich heute Nacht mit Bindu und Gai zum Marina Beach gehen will.»
«Warum?»
«Weil ich Olive Ridley sehen will.»
«Wer ist das?»
«Olive Ridley ist eine Meeresschildkröte.»
«Eine Meeresschildkröte?»
«Eine gefährdete Art.»
«Warum musst du um Mitternacht zum Strand gehen und eine Meeresschildkröte sehen?»
«Die Schildkröten schwimmen an Land und legen um Mitternacht ihre Eier.»
«Warum interessierst du dich für Schildkröteneier?»
«Wir müssen die Eier in Sicherheit bringen, sonst sterben die Olive Ridleys aus.»
«Wollen auch Jungen die Olive Ridleys retten?»
«Ja.»
«Mythili, überleg doch mal. Du. Um Mitternacht. Am Marina Beach. Und Jungen. Wie konntest du deinen Vater überhaupt fragen?»
Mythili stürmt aus dem Haus, und dieser kurze, dramatische Akt der Auflehnung hat etwas Drolliges, weil er fest an das Versprechen gekoppelt ist, dass sie vor Sonnenuntergang wieder zu Hause
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