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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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Magier. Manche meinten, was er als seinen Penis ausgab, sei in Wahrheit eine unreife Banane gewesen.
    «Und was war es deiner Meinung nach?», fragt Ousep.
    Balki sagt barsch: «Wie kann es denn eine Banane gewesen sein? Dümmer geht es wohl nicht.»
    Als Unni vierzehn war, deutete nichts auch nur im Geringsten auf das hin, was in ihm schlummerte, außer einem kurzen Kommentar, den er eines Abends abgab. Nach dem letzten Klingeln gingen die beiden Jungen von ihrem Klassenzimmer im zweiten Stock über den Korridor bis zur Treppe. Von dort oben konnten sie sehen, wie die Kinder aus ihren Klassenzimmern strömtenund in dem Meer der Schuluniformen verschwanden, wenn sie sich auf den Heimweg machten.
    «Es gibt so viele Leute auf der Welt», sagte Unni, «so unzählig viele. Die Natur muss Milliarden von Menschen hervorbringen, damit am Ende rein zufällig jemand geboren wird, der es schafft.»
    Unnis Worte ergaben keinen Sinn, und Balki maß ihnen keine Bedeutung bei. «Zwei Jahre später hat Unni mich gefragt, ob ich mich noch an diesen Moment entsänne, ob ich noch wüsste, was er gesagt hatte. Ich bejahte. Und dann sagte Unni: ‹Du hast ihn aus einem ganz bestimmten Grund nicht vergessen.›»
    «Aber was hat er damit gemeint, dass jemand geboren wird, der es schafft?», fragt Ousep.
    «Das habe ich ihn nicht gefragt.»
    «Und warum nicht?»
    «Damals wusste ich nicht, dass er bald stirbt. Deshalb habe ich seine Worte nicht so wichtig genommen. Aber ich kann mir vorstellen, was er gemeint hat. Wahrscheinlich, dass die Natur mit jedem Menschen, der geboren wird, auf gut Glück probiert, etwas Grandioseres zustande zu bringen. Sie scheitert permanent, aber dadurch, dass sie Milliarden von Menschen produziert, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr geheimnisvolles Ziel erreicht.»
    «Wenn man ausklammert, dass die Natur ein Ziel hat, dann beschreibt Unni hier mit laienhaften Worten die Evolutionstheorie. Eine Ewigkeit lang produziert die Natur Milliarden und Abermilliarden von fast identischen Organismen, und plötzlich geschieht zufällig etwas mit einem Lebewesen, und eine neue Spezies ist geboren.»
    «Aber davon hat Unni nicht gesprochen. Er hat, wie du mir erzählt hast, gesagt, ein einziger Mensch würde es schaffen.»
    «Ja, das stimmt.»
    «Was hat er damit genau gemeint?»
    «Das werden wir nie erfahren.»
    Die Tür springt auf, und Ousep und der Junge erschrecken. Mariamma kommt künstlich lächelnd mit einem Plastiktablett ins Zimmer, auf dem zwei Tassen Kaffee stehen. Sie stellt die Tassen auf den Schreibtisch, macht aber keine Anstalten, wegzugehen. Ousep starrt sie wütend an, doch sie beschließt, seinem Blick auszuweichen. Daraufhin führt er sie aus dem Zimmer, macht ihr wieder die Tür vor der Nase zu und verriegelt sie.
    Balki nippt an seinem Kaffee, zaust sich das Haar, gähnt herzhaft, drückt kurz seinen Penis, als wollte er ihn entwirren, und blickt dann auf den Kirchturm. Ousep wartet wortlos und schlägt sich auf die Schenkel. Auch Balki fängt an, sich auf die Schenkel zu schlagen. Schweigend sitzen sie da und schlagen sich auf die Schenkel.
    Balki zieht den
Indian Express
zu sich und fängt an zu lesen. Er blättert die Seiten um, faltet die Zeitung sogar und macht sich daran, einen kurzen Artikel über eine Straßenüberführung zu lesen, die bald gebaut werden soll. Er braucht viel zu lang für die Lektüre, und Ousep kommt der Gedanke, dass der Junge wahrscheinlich bei ihm ist, um ihm etwas zu sagen, sich aber nicht sicher ist, ob er es ihm sagen soll. Er trifft gerade eine Entscheidung.
    Als Balki wieder zu sprechen anhebt, ist es, als hätte er die ganze Zeit geredet. Doch es ist nicht klar, ob er sagt, was er sagen wollte, oder ob er nur Zeit gewinnen will. «Zuerst hat es keiner gemerkt», sagt er, «aber mit siebzehn veränderte Unni sich allmählich. Wir waren gerade in die zwölfte Klasse gekommen. Ich weiß nicht, inwieweit Sie über die absonderlichen Dinge Bescheid wissen, die damals in der Klasse geschahen.»
    Die meisten Jungen in Unnis Klasse waren seit Kindertagen zusammen und hatten seitdem die zwölfte Klasse als düstere Vorahnung im Hinterkopf. Unzählige Male hatten sie an gutenund schlechten Tagen zusammengesessen und sich gefragt, was aus ihnen werden würde, wenn sie am Ende der zwölften Klasse die unentrinnbare zentrale Oberstufenabschlussprüfung schreiben mussten. Sie wisperten einander zu, dass sich manche Väter vor Scham umgebracht hätten, weil ihre

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