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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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und die furchtbare Totenstille zu genießen, die er ringsum verbreitete. Manchmal blieb er vor einem Klassenzimmer stehen, inspizierte die Jungen durchs Fenster und wartete auf eine falsche Bewegung, eine Unterhaltung, die nicht auf Englisch geführt wurde, einen Schuh, der nicht schwarz genug war.
    In Simions Unterricht redete natürlich niemand. Bei jedem Husten mussten die Jungen «Sir, entschuldigen Sie bitte» sagen, weswegen sie ihr Husten zu kontrollieren versuchten und dadurch so unter Druck gerieten, dass sie manchmal laut und seltsam aufjaulten. Dass Unni und Simion aneinandergeraten würden,war vorprogrammiert, doch merkwürdigerweise schlug ihn Simion nicht und sprach nicht einmal mit ihm. Zur Auseinandersetzung zwischen den beiden kam es, als Simion schon vier Jahre an der St.-Ignatius-Schule und auf dem Höhepunkt seiner Macht war. Unni war siebzehn.
    Der Unterricht begann wie immer. Noch bevor er ins Klassenzimmer kam, herrschte nervöse Ruhe. Durch diese vertraute Stille ging er zum Lehrertisch und ließ sich mit leicht seitlich geneigtem Oberkörper auf dem Stuhl nieder. Er ordnete seine Sachen auf dem Tisch an und blätterte in einem Buch. Im Klassenzimmer herrschte absolute Stille, was durchaus normal war. Jeder Physiklehrer in Madras hatte Schülern der zwölften Klasse gegenüber eine gottähnliche Macht. In Simion Clarks Fall war er Gott.
    Daher stockte allen das Herz, als Unni aufstand und zur Tafel ging. «Ich verstand nicht, was geschah», sagt Balki. «Was macht Unni da?» Simion blickte auf, sah die Klasse an und drehte sich dann langsam nach rechts zu Unni. Unni stand eine Weile da und sah die Jungen an. Dann fing er an, ein skurriles Lied zu singen, das ganz wie Simions spanisches Lied klang. Das Lied war kurz. Danach ging Unni zu Simions Tisch. «Und dann passierte es. Unni gab ihm eine Ohrfeige. Simion rührte sich nicht. Er saß da und sah Unni mit ausdruckslosem Gesicht an, als hätte er die Ohrfeige erwartet. Unni ohrfeigte ihn noch einmal und steckte die Hand anschließend in die Hosentasche.» Das war Simions Stil, genau so ohrfeigte er die Jungen – mit einer schnellen Handbewegung und dem gewichtigen Zurückziehen der Waffe in die Hosentasche. Unni schlug ihn immer wieder auf diese Art. Simion starrte jetzt auf einen Fleck an der fernen Wand und ertrug die Ohrfeigen. Dann ging Unni zur Tür und machte sie zu. Er wandte sich an die Klasse und sagte: «Jetzt seid ihr dran.»
    «Natürlich rührte sich keiner. Wir waren alle zu schockiert. Deshalb zerrte Unni einen Jungen namens Kitcha vor die Klasse. Kitcha war ein Dummkopf, den Simion routinemäßig verprügelte. Der Junge sagte bettelnd: «Nein, Unni, ich will nicht, Unni, bitte.» Doch als Unni ihn vor Simion stellte, wurde Kitchas Blick plötzlich bedrohlich. Simion schluckte. Das weiß ich noch genau. In diesem Augenblick zerbrach – zumindest für mich – der Mythos Simion Clark. Er wirkte verängstigt und zerbrechlich. Ich glaube, auch Kitcha hat das gesehen.
    Kitcha trat Simion gegen die Beine und konnte es dann selbst kaum glauben. Er hatte so große Angst, dass er den Verstand verlor. Wie ein Rasender schlug und trat er Simion noch ein paarmal. Unni stand an der Tür und beobachtete alles genau. Merkwürdigerweise rührte sich Simion nicht von seinem Stuhl. Er sprach nur ein einziges Mal: «Bitte nicht», sagte er. Auf einmal verloren alle die Beherrschung. Fast die ganze Klasse stand um seinen Tisch. «Ein Junge rannte zwischen den Bänken auf und ab und schrie: ‹Ich will, ich will, ich will den Mistkerl schlagen.›»
    Einer stellte sich vor Simion und spuckte ihm ins Gesicht. Das inspirierte alle, die nicht wussten, wie man jemanden schlug. Sie gingen zu ihm und bespuckten ihn. Die meisten hatten wahrscheinlich keine Übung im Zielspucken und bespuckten sich am Ende selbst. «Jemanden zu bespucken, ist schwerer, als man meint. Ich saß da und sah mir alles an. Ich weiß nicht, was dann in mich fuhr. Ich verlor die Beherrschung, ging zu ihm hin und schlug ihm mit der Faust aufs Ohr. Nur einmal. Es war das erste Mal, dass ich jemanden schlug. Ich weiß nicht, warum ich es tat, aber es war ein magischer Moment.»
    Die ganze Klasse stand jetzt um Simion herum. Manche verpassten ihm Fausthiebe, andere bespuckten ihn. Er starrte immer noch unverwandt auf den Fleck an der Wand. Dann begann er plötzlich, am ganzen Körper zu zittern, biss sich auf die Lippenund fing an zu weinen. Die Schläge hörten auf. Unni ging auf

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