Das verbotene Glück der anderen
um ganz gewöhnliche Ereignisse, deren Bedeutung jetzt übertrieben wird, weil er sich umgebracht hat. Kinder tun die merkwürdigsten Dinge, aber man vergisst sie, weil die Kinder sich normal entwickeln. Jedenfalls die meisten. Aber manche schaffen es nicht, nicht wahr? Ansonsten hatte Unni als kleiner Junge nichts Auffälliges. Ousep mag es nicht, wenn Balki das Wort «gewöhnlich» verwendet. Aber jetzt weiß er, was Balki meint. Balki meint «normal».
Als Unni ungefähr vierzehn war, fing er an, schockierende Karikaturen von seinen Lehrern zu zeichnen, die in der Schule unter der Hand schnell zu einer Sensation wurden. Als er bald darauf seinen ersten Comic veröffentlichte, wurde er zu Recht berühmt. Es war wahrscheinlich sein erster Comic, sechs Seiten lang und in Wasserfarbe.
Ousep steckt sich noch zwei Zigaretten an und fragt, als die erste Rauchwolke davonzieht, mit nettem Lächeln: «Kannst du dich eigentlich an die genaue Seitenzahl erinnern?»
«Sechs Seiten. Mit einer Sicherheitsnadel zusammengeheftet», sagt Balki.
«Kann es sein, dass es fünf oder sieben Seiten gewesen sind?»
«Sechs», sagt Balki.
«Kannst du dich an die Geschichte des Comics entsinnen?»
«Natürlich.»
Der Comic beginnt mit einem Jungen, der wahrscheinlich vierzehn Jahre alt ist, so alt wie Unni damals. Der Junge ist unterwegs. Vor ihm geht ein Mann, der etwas in der Hand hält. Ein Bus gerät außer Kontrolle und fährt den Mann von hinten an. Die Brieftasche des Mannes, seltsamerweise der Gegenstand, den er in der Hand gehalten hatte, fliegt in die Luft und landet neben dem Jungen. Schnell bildet sich eine große Menschenmenge um den Mann und versperrt dem Jungen die Sicht. Es schwirrt von Kommentaren: «Ist das sein Gesicht?», «Ist das da drüben sein Ohr?», «Aus seinem Kopf kommt was Weißes.» Der Junge hebt die Brieftasche des Toten auf und geht weg. In der Brieftasche findet er ein bisschen Geld und Adresse und Foto des Besitzers. Der Junge gibt das Geld aus und verbringt ein paar glückliche Tage. Doch dann taucht der Tote in seinen Träumen auf. Danach fängt er an, den Mann auch tagsüber zu sehen – er steht unvermutet irgendwo und starrt ihn eindringlich an. Zu guter Letzt kann er seine Halluzinationen nicht mehr ertragen und beschließt daher, den Angehörigen des Toten das Geld zurückzugeben, das er aus der Brieftasche genommen hat. Er stiehlt seiner Großmutter Geld aus dem Schrank, steckt es ein und macht sich auf den Weg. Vor der Wohnung angekommen, drückt er auf die Klingel und wartet. Als die Tür aufgeht, ist der Junge entsetzt: Vor ihm steht die Leiche seiner Halluzinationen. Der Junge erstarrt vor Angst. Der Mann sieht die Brieftasche, die der Junge in der Hand hat, und dankt ihm für seine Ehrlichkeit. Wie sich herausstellt, war sie ihm vor ein paar Tagen gestohlen worden, und der Unfalltote war der Dieb.
Der Comic, der laut Balki keinen Titel hatte, wurde tagelang weitergereicht. Denen, die die Geschichte noch nicht gelesen hatten, verrieten eifersüchtige Jungen die Pointe. Unnis Ruhm beruhte jedoch nicht allein auf der Geschichte, sondern ebenso auf den exquisiten Zeichnungen. Zu guter Letzt landete der Comicbei einem Lehrer, der beschloss, die sechs Seiten vor dem Rektorat an die Wand zu kleben. Jungen in Grüppchen und gelegentlich Eltern versammelten sich dort täglich und lasen den Comic. Der Erfolg von Unnis erstem Comic hätte zu Hause eine kleine Sensation gewesen sein müssen, doch Ousep bekam davon nichts mit. Er kann niemandem Vorwürfe deswegen machen, findet es aber jammerschade, dass man ihm Unnis allerersten Comic damals vorenthielt und ihm nicht erzählte, was für ein Hit er in der Schule war. Unni hätte seinem Sohn sonst die Hand auf die Schulter gelegt und ihm, ohne zu lügen, gesagt: «Es ist eine großartige Geschichte, Unni, ich bin stolz auf dich.» Unni hätte vielleicht auf seine scheue Art gelächelt, ihm dabei aber direkt in die Augen gesehen.
Etwa zu dieser Zeit fing Unni an, sich viel auf seine Erektionen einzubilden. Balki verrät Ousep dies ohne die geringste Verlegenheit und ohne Veränderung im Tonfall seiner festen Stimme. Nach dem Englischunterricht einer schlanken Lehrerin mit wild gebundenem Sari, deren tiefen Nabel man sah, saß Unni hinterher auf seinem Platz und lud alle ein, seine Latte anzufühlen. Alle fanden sie außergewöhnlich hart, und viele wollten daher schlicht nicht glauben, dass sie zu seinem Körper gehörte. Unni war schlau und ein
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