Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
mit der Zeit hineingegraben. Drei Jahrhunderte lang hatte das Kommen und Gehen zahlloser Füße den Weg ausgetreten, der sich über den Hang schlängelte, bis er Brans Bericht zufolge in einem Wald am Flussufer verschwand. Die seltsame Straße schien aus dem Nichts zu kommen und dorthin zurückzuführen, denn im Umkreis der Berge konnte Bran sie nirgendwo mehr entdecken.
Drakonas konzentrierte sich wieder auf die Stimmen. Beim ersten Laut hatte er geglaubt, sie würden direkt über ihm ertönen. Jetzt stellte er fest, dass die Stimmen aus einiger Entfernung kamen, nämlich aus der Höhle, die den Klang verstärkte. Er konnte mindestens zwei Sprecher unterscheiden, doch durch den Nachhall waren die Worte nicht zu verstehen.
Unter dem Schutz des Donners rutschte Drakonas von dem Felsen herunter zu Edward. »Eine Wache«, flüsterte er dem König ins Ohr. »Und die schläft.«
»Und der Zauber?«, flüsterte Edward zurück. »Glitzernder Feenstaub um den Eingang? Leuchtende Spinnweben darüber?«
»Ob der Zauber ausgelöst wird, erfahren wir erst, wenn wir einzutreten versuchen«, erklärte Drakonas. »Und das werdet Ihr nicht mehr so komisch finden! Bei allem, was Euch heilig ist, verhaltet Euch so ruhig wie möglich.«
Wieder schwang sich Drakonas auf den Felsen und zog sich über den Rand. Diesmal blieb er in der Hocke und vergewisserte sich lauschend, dass niemand kam. Außer den Stimmen in der Höhle war nichts zu vernehmen.
Die müde Wache war auf ihrem Felsen in sich zusammengesunken. Drakonas konnte es dem Mann kaum verdenken. Dreihundert Jahre Langeweile, ohne dass je etwas geschah. Edward reichte ihm seinen Stab hinauf. Drakonas legte den Stab auf den Boden und reichte dann dem König die Hand, um ihn hochzuziehen.
»Still!«, warnte Drakonas.
Beide verharrten regungslos. Die Stimmen setzten ihr Gespräch fort, aber daneben waren inzwischen Schritte und andere, seltsamere Geräusche zu hören.
»Das klang nach einem Baby!«, hauchte Edward.
»Seid still!«, fuhr Drakonas ihn verärgert an. Er versuchte nachzudenken. Dann wandte er sich zu dem König um, nahm dessen Hand und schaute ihm in die Augen. »Was auch immer passiert, was auch immer Ihr hört oder seht, Ihr mischt Euch nicht ein. Versprecht mir das.«
»Was ist hier los? Ihr müsst es mir erzählen.«
»Keine Zeit. Versprecht es einfach«, beharrte Drakonas. »Sonst kehre ich um.«
Stirnrunzelnd blieb Edward stehen und warf einen erzürnten Blick auf die dunkle Höhle. Die Schritte und das Wimmern und Schreien wurden lauter. Dort drinnen näherte man sich dem Eingang.
»Versprochen«, murmelte er.
»Ihr könnt nichts tun«, erklärte Drakonas. »Wenn Ihr versucht, sie aufzuhalten, werden sie kämpfen, und Ihr setzt das Leben der Kinder aufs Spiel. Versteckt Euch da drüben. Wartet auf mein Zeichen.«
Edward tat wie geheißen, obwohl er offenkundig nicht glücklich darüber war. Wie alle Tiere, sogar die Drachen, hatten Menschen das instinktive Bedürfnis, den Nachwuchs ihrer Art zu beschützen. Drakonas hätte den König vorwarnen können, dass möglicherweise Kinder im Spiel waren, aber er war nicht davon ausgegangen, dass sie ausgerechnet zu einem Zeitpunkt ankamen, wo gerade welche abtransportiert wurden.
Verwünschter Zufall!
Drakonas wartete noch einen Moment, um sicherzugehen, dass Edward seinem Befehl nachkam. Der König mochte ein Romantiker sein, aber er hatte dennoch eine gesunde Portion klaren Verstand mitbekommen. Also tat er, was nötig war, schlich leise an der schlafenden Wache vorbei und suchte Deckung zwischen einigen Felsbrocken in der Nähe des Höhleneingangs. Sobald Edward gut verborgen war, zog sich Drakonas neben dem Eingang bis auf den überragenden Felsvorsprung hoch, der das Vordach bildete. Dort legte er sich flach auf den Bauch und spähte über den Rand.
Der schlafende Soldat befand sich nun direkt unter ihm.
Aus der Höhle traten drei weitere Soldaten, die wie der Wächter mit Stahlhelm und Schwert ausgerüstet waren.
»Aufwachen, du fauler Hund«, raunzte der eine und rempelte den Posten an. »Dein Glück, dass ich es bin und nicht Grald, der dich beim Schnarchen erwischt. Sonst würdest du nicht mehr aufwachen.«
»Pah, wozu ist diese Wache überhaupt gut? Hierher verirrt sich doch höchstens mal eine Ziege«, gähnte der Soldat. Er blickte zur Höhle zurück. »Ich wünschte, diese alten Weiber würden sich etwas sputen. Kannst du ihnen nicht Beine machen?«
»Ein bisschen schneller da drinnen«,
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