Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
Frau. Sie erwiderte den Druck der weichen, jungen Hand und streichelte diese zart, als würde sie deren Kraft und Jugend genießen. Ihr Blick wanderte zu Edward hinüber, den sie jedoch nicht sehen konnte. »Ist er tot?«
»Tot oder bewusstlos«, antwortete Melisande, die dem Körper einen kurzen, achtlosen Blick zuwarf. »Wenn er tot ist, ersparen wir uns wenigstens einen Prozess. Ansonsten wird er seines Verbrechens angeklagt werden. Ich trage dich jetzt in dein Zimmer. Dann hole ich Hilfe.«
»Noch nicht, Melisande«, keuchte die Meisterin. Sie hielt die Hand ihrer Nachfolgerin fester und wollte sprechen. »Erst musst du noch etwas … für mich tun.«
Die durchnässte Melisande zitterte. Inzwischen fühlte sie die Nachwirkungen des Blutfluchs. Bald würde sie vermutlich zu schwach sein, um ihre Herrin zu tragen, doch sie wollte diese nicht mit dem Angreifer allein lassen. »Ich erfülle dir jeden Wunsch, Meisterin, aber zuvor möchte ich, dass du es bequemer hast.«
»Du widersetzt dich mir, Melisande?« Die Frage klang eher traurig als verärgert.
»Nein, Meisterin.« Melisande stockte. »Ich sorge mich nur um dein Wohlergehen.«
»Dann tu, was ich dir sage.«
Nach Luft schnappend sank die alte Frau zurück. Ihre Lider schlossen sich. Einen Moment lang lag sie still. Ihr Körper war so gebrechlich, dass das Klopfen ihres Herzens ihre gesamte Gestalt zum Zittern brachte.
Dann schlug sie die Augen wieder auf. Ihr trübe werdender Blick wanderte an Melisande vorbei zum Ende des Raumes. »Geh zum Altar.«
Melisande warf einen unsicheren Blick auf den Körper des Entführers. Jetzt lag er still, doch eben noch glaubte sie, eine Bewegung und ein ersticktes Stöhnen bemerkt zu haben. Er war nicht tot. Sie hatte ihn nicht umgebracht. Also konnte er jederzeit wieder zu sich kommen.
Die Hohepriesterin massierte ihre Arme, um das Beben zu lindern. Am liebsten hätte sie die Befehle der Meisterin ignoriert, da sie ganz und gar nicht zur Situation zu passen schienen. Lieber würde sie ihre Herrin trotz deren Protesten hochheben und in ihr Zimmer tragen. Von dort aus würde sie Bellona alarmieren, die mit der Lage rasch fertig werden dürfte. Nie hatte sich Melisande mehr nach der Stärke ihrer Geliebten gesehnt als in diesem Augenblick.
»Melisande«, sagte die Meisterin, in deren matter Stimme jetzt mehr Schärfe lag. »Was ich von dir verlange, ist sehr wichtig. Geh zum Altar.«
Ihr Leben lang hatte Melisande den Befehlen der Meisterin gehorcht, normalerweise aus Liebe und Respekt, nicht aus Angst. Darum konnte sie nun unmöglich ungehorsam sein, besonders da jeder Befehl der Meisterin ihr letzter sein mochte.
Sie küsste der Greisin die Hand und legte diese dann auf deren Brust. Nach einem letzten forschenden Blick auf den Mann, der sich nicht regte, war sie zufrieden. Vielleicht war das sein letztes Aufstöhnen gewesen. Im Moment stellte er keine Bedrohung dar. Also ging Melisande in den hinteren Bereich des Raumes, wo der Marmoraltar stand.
Die Meisterin war kaum in der Lage, ihren Kopf zu drehen. Das einzig Lebendige an ihr schienen ihre Augen zu sein, die mit brennendem Verlangen jede Bewegung von Melisande verfolgten. Auch das in den Boden geschlagene Auge sah ihr zu.
Als Melisande den Altar erreichte, kniete sie davor auf ihrer Decke nieder, wie sie es gewohnt war. Bei dieser Bewegung geriet sie ins Taumeln. Der Schock, die Müdigkeit und der Blutfluch waren zu viel für sie gewesen. Sie hatte keine Kraft mehr. Mit geschlossenen Augen faltete sie die Hände und betete kurz und inbrünstig um eigene Kraft.
»Ich bin hier am Altar, Meisterin«, begann sie danach. Mit großer Willenskraft hinderte sie ihre Stimme am Zittern. »Welchen Wunsch darf ich dir erfüllen?«
»Stell keine Fragen, Melisande«, mahnte die Meisterin. Ihre Stimme klang noch kräftiger. Eifer und Ungeduld lagen darin. »Tu genau das, was ich dir sage. Steh auf, und geh in den Alkoven hinter dem Altar.«
Verwundert drehte sich Melisande nach der alten Frau um. Sie hatte ein ungutes Gefühl, ohne zu wissen weshalb. Die Meisterin hörte sich so fremd an.
»Steh auf«, drängte ihre Herrin, »und geh in den Alkoven.«
Etwas schwankend erhob Melisande sich. Vielleicht hatte sie sich verhört? »Nur die Drachenmeisterin darf den Alkoven betreten.«
»Und du wirst bald Meisterin sein, Melisande. Tu, was ich dir sage.«
Irritiert tat Melisande, wie ihr geheißen wurde. Seit sie diesen Raum vor zehn Jahren als Novizin erstmals betreten
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