Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
Panik.
»Öffne ihn!«
Mit letzter Kraft drückte Melisande erneut dagegen. Knirschend setzte sich der Deckel in Bewegung.
Darunter gähnte Finsternis, so tief und endlos wie die allerletzte Dunkelheit, die unsere Augen schließt, auf dass sie sich nie wieder öffnen. Die kühle Luft, die daraus aufstieg, roch nicht modrig wie ein Grab, sondern nach frischem Blut. Melisande würgte vor Entsetzen. Am liebsten wäre sie vor dem Tod und dem Blutgeruch zurückgezuckt, doch sie konnte sich nicht rühren.
Die Angst hatte sie fest im Griff.
Der Marmordeckel öffnete sich aus eigener Kraft immer weiter. Erschauernd und ohne es wirklich zu wollen, warf Melisande einen Blick nach unten.
Ihr starrte die Meisterin entgegen.
Schaudern erfasste Melisandes ganzen Körper. Sie konnte weder schreien noch einen Laut von sich geben. Wenn sie sich nicht an den Altar geklammert hätte, wäre sie gestürzt.
Im Inneren des Sarges lag die Meisterin. Es war dasselbe verehrte Gesicht, das Melisande schon ihr Leben lang kannte. Sie sah die Spuren der Jahre, doch auf diesem Gesicht stand ein Ausdruck unbeschreiblicher Qual. Der Blutgeruch stammte aus der grässlichen, klaffenden Wunde in der Brust der Frau.
Man hatte ihr das Herz aus dem Leib gerissen, doch aus unerfindlichen Gründen war sie am Leben.
In den Augen, die Melisande anstarrten, lag ein Bewusstsein, das grauenvoll war. Die Hände waren zu Fäusten geballt, um den nicht enden wollenden Schmerz zu ertragen. Der Mund war zu einem unhörbaren Schrei aufgerissen. Die Meisterin konnte sich nicht rühren, nicht schreien, nicht atmen. Aber sterben konnte sie auch nicht.
Wie lange ruhte sie schon auf diese Weise hier unten? Wie lange lag sie in der endlosen Dunkelheit gefangen, von Schmerz und Grauen gepeinigt?
Melisandes verstörter Blick wanderte zu der lebenden Meisterin, die sich ihr jetzt langsam näherte, und sie wusste, dass es eine sehr lange Zeit sein musste. Jahr um Jahr voller Qualen, in Finsternis und Angst und unerträglicher Einsamkeit.
In der Hand der Meisterin lag ein goldenes Medaillon. Der Wunsch, dieses wunderschöne Medaillon zu berühren und damit zu spielen, gehörte zu Melisandes frühesten Kindheitserinnerungen.
»Du fragst dich, was ich mit ihrem Herzen gemacht habe. Ihr Herz ist hier drin, Melisande«, teilte die Meisterin ihr mit, während sie noch näher kam. »Wenn ich das Medaillon öffne, wird sie sterben.«
»Was bist du?«, schrie Melisande auf und klammerte sich an den Steinsarg. Das Leben klammerte sich an den Tod. »Wer bist du?«
»Ich bin du, Melisande«, flüsterte die Meisterin. Ihre Hand griff nach Melisandes rasendem Herzen. »Jedenfalls werde ich das bald sein.«
Die Hand aus Fleisch verdorrte und verwandelte sich in eine Klaue – eine Klaue voller glitzernder Schuppen mit scharfen, glänzenden Krallen.
Eine Drachenklaue.
14
Edward bewegte sich stöhnend. Seine Hände zuckten. Von der anderen Seite der Illusion flüsterte Drakonas ihm herrisch zu: »Rührt Euch nicht!«
Trotz seiner Kopfschmerzen und seiner Benommenheit gehorchte Edward auf der Stelle. Seine Wange lag auf dem kalten Boden. Er schloss die Augen vor dem flackernden Licht und konzentrierte sich darauf, Schwindel und Übelkeit zu beherrschen. Dabei hörte er, wie die beiden Frauen ganz beiläufig und gnadenlos über seinen Tod sprachen. Er schwebte in Gefahr, doch er hatte nicht die leiseste Ahnung, aus welcher Richtung diese kam.
Der König erinnerte sich nur verschwommen an das, was geschehen war, doch es war alles so unlogisch. Schlanke, zarte Finger, aus denen gleißende Lichtbögen strömten, die sein Fleisch und seine Kleider versengten und zitternde Schockwellen durch sein Blut sandten. Es klang so unglaubwürdig, doch er fühlte die Verbrennungen.
Dass alles, was sich zugetragen hatte, so unwirklich erschien, machte es noch schrecklicher. Hoffentlich wusste wenigstens Drakonas, was hier vor sich ging, und überlegte bereits, wie er mit der Situation umgehen sollte. Momentan bestand Edwards einzige Aufgabe darin, bei Bewusstsein zu bleiben und den pochenden Schmerz in seinem Kopf zu erdulden.
Lautlos betete er zu Gott um seine Rettung. Dann flüsterte er Drakonas zu: »Was soll ich tun?«
»Noch gar nichts«, kam dessen Antwort zurück. »Bleibt liegen, und muckst Euch nicht.«
Edward schluckte den bitteren Geschmack in seinem Mund hinunter. Trotz Drakonas' Warnung riskierte er es, den Kopf ein klein wenig zu drehen, damit er besser sehen und hören
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