Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
ihre Hand lag schon an der Tür.
»Niemand darf eintreten. Niemand.« Sie stockte, denn ihre Kehle schnürte sich zusammen. Dann sagte sie leise: »Die Totenwache beginnt.«
»Ja, Priesterin«, nickten die Wachen, deren Gesichter im Regen geisterhaft schimmerten. »Der Segen der Meisterin sei mit dir, Priesterin.«
Die Wachen öffneten die schweren Bronzetüren. Vor ihr erstreckte sich der dunkle, stille Gang. Als die Türen sich hinter ihr wieder schlossen, zogen die Frauen sie leise und langsam zu, um die beängstigende, lastende Stille nicht zu stören.
Melisande kam der seltsame Gedanke, dass sie diese Türen erst als Drachenmeisterin erneut durchschreiten würde.
»Ich bin noch nicht so weit. Es ist zu früh. Meisterin, bleibe an meiner Seite, und schenke mir Kraft!«, betete sie.
Dann straffte sie sich, wischte Tränen und Regen aus den Augen und zündete eine der Kerzen an, die stets auf dem Tisch an der Tür standen. In einer Hand hielt sie die Kerze, mit der anderen raffte sie ihr nasses Gewand, als sie geschwind und dennoch voll schmerzlicher Vorahnungen den finsteren Gang entlanglief.
Sie fragte sich, ob sie wirklich die Stimme der Meisterin vernommen hatte. Vielleicht war es auch ein Traum gewesen oder eine Mischung aus beiden – ein Traum, der dem Kummer in ihrem Herzen entsprang.
Am Ende des ersten Gangs bog Melisande um die Ecke und betrat den Korridor, der zum Schlafgemach der Meisterin führte. Hier blieb sie entgeistert stehen. Der Anblick war so schockierend, dass sie einen Moment lang wie gelähmt war. Sie konnte sich nicht rühren, nicht denken, keinen Laut von sich geben, nur überrascht Luft holen.
Die Tür zum Zimmer der Meisterin stand offen, ebenso ein Stück weiter die Tür, die zum Heiligtum führte. Ein Lichtschein drang in den Gang, und in diesem Licht stand ein Mann, der ein Bündel Bettwäsche von der Meisterin zu tragen schien. Melisandes verblüffter Verstand konnte nicht enträtseln, warum ein Dieb eine Decke stehlen sollte, doch dann erhaschte sie einen Blick auf eine schlaffe Hand, die aus den Falten der blaugrünen Seide baumelte.
Der Schock des Begreifens ließ sie ihre Stimme und ihre Kraft wiederfinden.
»Meisterin! Halt!«, schrie sie verzweifelt. Bei diesem Ruf eilte der Mann mit der Meisterin auf den Armen in das Heiligtum.
Die Tür schlug zu, das Licht verschwand. Bis auf das flackernde Licht, das aus dem Zimmer der Meisterin drang, war es wieder dunkel im Gang.
Melisande wollte hinterherrennen, doch schon beim ersten Schritt rutschten ihre nassen Sandalen auf dem Marmorboden aus. Sie konnte sich zwar abfangen, doch bei dem unerwarteten Sturz stieß sie sich das Knie an und verstauchte sich das linke Handgelenk. Nur die Angst um die Meisterin ließ sie den Schmerz verdrängen. Melisande rappelte sich auf und hetzte voller Panik den Gang hinunter.
Am Zimmer der Meisterin machte sie nur kurz Halt, um sich zu vergewissern, dass es wirklich so war, wie ihr aufgelöster Verstand ihr gemeldet hatte.
Die Meisterin war mitsamt ihrem Bettzeug verschwunden. Der Mann hatte sie fortgetragen. Und weil die Meisterin diese Gefahr bemerkt hatte, hatte sie nach Melisande gerufen.
Die Priesterin wollte schon zum Eingang zurückkehren, doch ihr Herz zog sie in die andere Richtung. Unentschlossen drehte sie sich wieder um, obwohl doch eigentlich jede Sekunde zählte.
»Aber er ist ein Mann«, zauderte sie. »Und er ist bewaffnet.«
Plötzlich wurde Melisande völlig ruhig.
»Ich bin auch bewaffnet«, sagte sie sich kühl. »Mit der Magie.«
Ein seltsames Gefühl überkam sie, eine ruhige Bestimmtheit, die alle Furcht verdrängte.
»Welch ein Tor! Dieser Weg führt ihn direkt ins Heiligtum. Dieser dreiste Entführer der Meisterin sitzt bald fest.«
Melisande eilte ihm nach. Auf ihren Lippen und in ihrem Bauch loderte die Magie, die sie erst einmal im Zorn gegen die Drachen eingesetzt hatte.
12
»Meisterin! Halt!«, rief die Frau.
Edward war so aufgeregt, dass er die zischende, lispelnde Stimme vernahm, die er in der Höhle gehört hatte, jene Stimme, die gelobt hatte, dass heute Nacht die Meisterin sterben würde. Der König sah sich um, weil er das Gesicht der Mörderin erkennen wollte, doch sie stand im Schatten. Ihre Züge waren nicht auszumachen.
Der Ärger stieg in ihm auf, und er hätte gern angehalten, um sich dieser verschlagenen Frau zu stellen. Doch seine erste Sorge musste der Greisin gelten, die er in den Armen hielt. Er würde sie in Sicherheit bringen.
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