Das verbotene Land 2 - Drachensohn
verraten: Dass sie genau von einem solchen Monster regiert wurden, das sie zu hassen gelernt hatten. Aber wenn das alles ist, was er wollte, hätte er Melisande auch gleich töten können. Zweifellos hatte er seine eigenen finsteren Absichten, nur kenne ich diese nicht.«
»Meine Frage …«, setzte Anora an.
»Ja. Verzeihung, ich bin abgeschweift. Um deine Frage zu beantworten, Ministerin: Nein, ich glaube nicht, dass der Drache mit dieser ›Folge‹ gerechnet hat. Ich glaube eher, dass sie ihn ebenso schockiert hat wie uns. Die Fähigkeit der Menschenkinder, miteinander Gedanken auszutauschen, bedroht ihn ebenso wie uns. Als der Drache entdeckte, dass die Kinder einander gefunden hatten, hat er diesen Kontakt gewaltsam beendet. Er freut sich nicht darüber.«
»Er hat ihnen doch nichts getan?«, erkundigte sich Anora besorgt.
»Körperlich nicht. Er kann sie nicht finden. Aber er sucht nach ihnen, und früher oder später wird er sie entdecken, denn nun kann er in ihre Gedanken eindringen. Deshalb möchte ich auf meinen ursprünglichen Vorschlag zurückkommen. Ich habe Gralds Königreich gesucht, das Menschenreich, in dem er die gestohlenen Kinder unterbringt. Ich kann es nicht finden. Es wird von mächtiger Magie geschützt, wahrscheinlich von Traummagie. Aber wenn wir alle gemeinsam danach suchen würden …«
Schiefergrau und sturmschwarz, purpurrot, lila und grün brandeten die Gedankenwogen auf ihn los. Anora machte nicht einmal den Versuch, die Ordnung wiederherzustellen. Drakonas hielt der Wut stand. Ihm war schon klar gewesen, welche Reaktion kommen würde, ehe er seinen Vorschlag ausgesprochen hatte.
Als der Aufruhr sich gelegt hatte und Anora sich zu Wort melden konnte, benannte sie die Gründe, weshalb sie Drakonas' Bitte nicht nachkommen konnte. Er kannte diese Gründe längst auswendig. Wenn Drachen eine Menschenkolonie angreifen würden, würde die Nachricht sich ausbreiten. Die Menschen jeder anderen Siedlung würden davon hören und in Panik geraten. Ganze Nationen würden sich gegen die Drachen erheben, sie ausfindig machen und angreifen.
Menschen würden sterben.
Vielleicht auch Drachen.
»Es gibt noch andere Möglichkeiten, Drakonas«, erinnerte Anora nun. Das hatte sie schon eher gesagt. »Geduld. Das ist das Wichtigste. Hab Geduld. Lass uns Zeit, damit wir uns etwas Besseres ausdenken können.«
Und so weiter und so fort, für immer und ewig, Amen.
Natürlich hatte Anora Recht. Ein Krieg zwischen Menschen und Drachen war eine schreckliche Vorstellung, die unter allen Umständen zu vermeiden war. Aber am Ende blieb ihnen vielleicht keine andere Wahl.
»Warum verrätst du uns nicht, wo die Kinder versteckt sind, Drakonas«, wollte Lysira wissen, ein junger weiblicher Drache. Die Schwester von Bran war die Letzte ihrer edlen Familie, ein schöner meerblauer Drache mit langem, fein geschwungenem Hals. »Wir könnten sie beschützen.«
Drakonas' Gedanken wurden sanfter, als er ihre berührte. »Ich kann es nicht verraten, Lysira. Denn damit würde es mein Feind erfahren.«
Lysira brauste wütend auf. »Wie kannst du es wagen, mich zu beschuldigen!«
»Ich beschuldige nicht dich, Lysira«, beschwichtigte Drakonas. »Ebenso wenig wie ein anderes Mitglied dieses Parlaments. Aber Tatsache ist, dass Maristara wieder und wieder von unseren geheimsten Plänen erfahren hat. Nur deshalb konnte sie unsere Vorhaben vereiteln.«
Er verlor die Geduld. Rot und Orange flammten auf. »Wenn unser Feind hier unter uns ist, dann ist diese eine Frage – wo sind Melisandes Kinder – diejenige, die er am dringendsten beantwortet haben will.«
Drakonas verneigte sich steif vor Anora. »Ministerin, wir haben nur Zeit verschwendet.«
Dann machte er kehrt und ging hinaus, ohne formell entlassen zu sein, ein schwerwiegender Verstoß gegen die Etikette. Doch das scherte ihn heute nicht. Er war wütend und enttäuscht. Offenbar war der ganze Weg sinnlos gewesen, er hatte nur Aufruhr hervorgerufen. Im Geiste sah er die Drachenfarben aufflammen, was menschlichem Geschrei entsprach. Sie würden noch tagelang streiten, bis sie am Ende das tun würden, was er von Anfang an gewusst hatte – nichts.
So ließ Drakonas den aufdringlichen, wabernden Glanz hinter sich und begann mit dem langen Aufstieg ans Tageslicht.
Die beiden Drachen hatten alles gesehen, was sie sehen mussten. Jetzt trafen sie sich in Gedanken, als Drakonas die unterirdische Höhle verließ, in der das Parlament tagte.
»Der Zweibeiner weiß,
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