Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
ins Flugzeug nach Stockholm steigen. Ein neues Leben in einem anderen Land. Neue Ufer. Abgebrochene Brücken.
Sarah Lund war achtunddreißig, eine ernste Frau, die unablässig die Welt um sich herum betrachtete, nie sich selbst. Es war ihr letzter Tag bei der Kopenhagener Polizei. Frauen wie sie kannten keine Albträume, keine Ängste im Dunkeln, kein Aufblitzen eines erschrockenen jungen Gesichts, das vielleicht einmal ihres gewesen war.
Das waren die Phantasien anderer.
»Keine Antwort?«, sagte der Polizist und sah sie missmutig an. Er zog das Absperrband hoch und führte sie zu der eisernen Schiebetür. »Wissen Sie was? So was hab ich überhaupt noch nicht gesehen.«
Er gab ihr ein Paar blaue Schutzhandschuhe und wartete, bis sie sie übergestreift hatte, dann stemmte er die Schulter gegen das rostige Metall. Kreischend wie eine misshandelte Katze ging die Tür auf.
»Bin gleich wieder da«, sagte er.
Sie wartete nicht, ging einfach los, wie sie es immer tat, allein, schaute, erst in die eine Richtung, dann in die andere, die hellen Augen weit geöffnet, schaute nur. Aus irgendeinem Grund schob der Polizist, kaum war sie drin, die Tür zu, so schnell, dass die Katze eine Oktave höher kreischte als zuvor. Und dann verstummte, als die schwere Eisentür sich dröhnend schloss und den grauen Tag aussperrte.
Vor ihr ein Gang in der Mitte eines Raums wie ein Fleischerladen, Träger mit Haken daran. An der Decke eine einzelne Reihe Glühbirnen. Der Betonboden glänzte feucht. Ganz hinten bewegte sich etwas im Halbdunkel, schwang wie ein riesiges Pendel langsam hin und her. Irgendwo klackte ein Lichtschalter, dann war es finster, so finster wie am Morgen in ihrem Schlafzimmer, als ein wüster, unerwünschter Traum sie wachgerüttelt hatte.
»Licht!«, rief Lund.
Ihre Stimme hallte im schwarzen, leeren Bauch des Gebäudes wider.
»Licht, bitte.«
Kein Laut. Sie war eine erfahrene Polizistin, dachte stets an alles, was sie mit sich führen musste, bis auf die Pistole, die ihr immer erst später einfiel. Aber sie hatte die Taschenlampe, wohlverwahrt in ihrer rechten Tasche. Holte sie heraus und hielt sie nach Polizistenart: rechte Hand erhoben, Handgelenk nach hinten abgewinkelt, Lichtstrahl geradeaus, suchend, in Winkel spähend, in die andere nicht schauten.
Das Licht und Lund gingen auf Suche. Decken, alte Kleider, zwei zerdrückte Coladosen, eine leere Kondompackung. Drei Schritte, dann blieb sie stehen. Rechts an der Wand, in Bodennähe, eine Pfütze, scharlachrot, klebrig, auf dem abblätternden Putz zwei waagerechte Streifen, wie verschmiertes Blut, von einer Leiche, die über den Boden geschleift wurde.
Lund holte ihre Nikotinkaugummis hervor und steckte sich einen in den Mund. Sie ließ nicht nur Kopenhagen hinter sich. Auch das Rauchen stand auf der Abschussliste. Sie bückte sich, tupfte einen blauen Latexfinger in die Pfütze, hob ihn an die Nase und schnupperte daran. Drei Schritte weiter stieß sie auf eine Axt, der Griff sauber und glänzend, als sei sie erst tags zuvor gekauft worden. Sie legte zwei Finger in die rote Flüssigkeit an der Schneide, rieb sie aneinander, roch daran, überlegte.
Lund würde sich nie mit dem Nicotinell-Geschmack anfreunden. Sie ging weiter. Das Ding dort vorn war jetzt deutlicher zu sehen. Eine Industrieplane, rot verschmiert. Wie das Leichentuch eines geschlachteten Tiers. Darunter menschliche Umrisse. Lund veränderte die Position der Taschenlampe, hielt sie dicht an der Taille, den Strahl aufwärts gerichtet, musterte die Plane, suchte eine Stelle, wo sie sie greifen konnte. Sie riss die Plane mit einem Ruck weg, und was dahinter war, pendelte im Schein der Lampe langsam hin und her. Das starre Gesicht männlich, der Mund zu einem immerwährenden O geöffnet. Schwarze Haare, rosa Haut, ein monströser Plastikphallus. Auf dem Kopf ein leuchtend blauer Wikingerhelm mit silbernen Hörnern und goldenen Zöpfen.
Lund legte den Kopf schräg und lächelte, der Zöpfe wegen.
Ein Zettel war an der Brust der Sexpuppe befestigt: Danke, Chefin, für sieben gute Jahre. Die Jungs.
Gelächter aus dem Dunkel.
Die Jungs .
Ein guter Scherz. Obwohl sie ruhig echtes Blut hätten nehmen können.
Das Polizeipräsidium war ein graues Labyrinth auf einem aufgeschütteten Stück Land nahe am Wasser. Von außen ein düsterer Kasten, öffnete sich das Gebäude auf einen runden Hof. Klassische Säulen säumten die schattigen Arkaden ringsum. Im Innern führten Wendeltreppen zu den
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