Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
ging geradewegs zur Gepäckaufbewahrung. Ein diensteifrig wirkender junger Mann in einer blauen Uniform stand hinter dem Schalter. Wenn ein Schließfach nach drei Tagen nicht geleert sei, sagte er, werde das Gepäck herausgenommen und eingelagert.
»Geben Sie mir den Schlüssel, dann bring ich’s Ihnen«, fügte er hinzu. »Und die Gebühr bitte.«
»Ich hab keinen Schlüssel.«
»Wie ist denn die Nummer?«
»Die hab ich nicht.«
»Dann«, sagte er strahlend, »bekommen Sie auch kein Gepäck.«
»Es ist eine Reisetasche. Eingestellt am 31. Oktober.«
Er sah nicht älter aus als achtzehn. Hinter ihm endlose Regalreihen voller Gepäck.
»Ist es Ihre Tasche, oder was?«
»Sagen Sie mir einfach, wo ich suchen muss, dann finde ich sie schon.«
Er verschränkte die Arme.
»Sonst noch Wünsche? Ein Gratisticket erster Klasse nach Helsingør? Einen Cheeseburger?«
Sie holte ihre Polizei-Visitenkarte hervor und gab sie ihm.
»Sarah Lund. Sie haben uns wegen eines verdächtigen Koffers angerufen.«
Er las die Karte, steckte sie ein.
»Da müsste ich Ihren Ausweis sehen.«
Sie kletterte über die Absperrung.
»Ich find sie schon.«
Sie marschierte an ihm vorbei, ließ ihn schimpfen, ging nach hinten, zog eine Tasche vom Regal. Das Datum zu neu. Nannas Tasche musste woanders sein.
»Was fällt Ihnen ein! Ich bin Bahnbeamter.«
»Ich will Ihnen doch nur helfen«, sagte Lund und lief schnell die Regale entlang.
»Jetzt werde ich aber böse.«
Er blieb stehen, verschränkte wieder die dünnen Arme.
»Sie werden böse?«, schrie sie ihn an. »Ich komme an meinem freien Tag hierher, um jemandem bei der Bahn einen Gefallen zu tun, und dann muss ich mich mit einem pickligen Teenager rumschlagen! Scheren Sie sich über die Straße, Kleiner, und fahren Sie eine Runde auf dem Karussell. Die Erwachsenen haben zu arbeiten.«
Er lief rot an, begann zu jammern, wedelte mit den Armen.
»Sie, Sie … also … Sie!«
»Micky Maus wartet«, sagte sie und zeigte zum Tivoli hinüber.
»Bleiben Sie hier stehen«, schrie er. »Ich hole meinen Chef.«
Lund beeilte sich. So viele Taschen. Die meisten schwarz. Männertaschen. Nanna war hübsch gewesen und hatte hübsche Dinge gemocht. Stimmen am Ende des Raumes. Jemand schimpfte. Lund rannte schon halb, da sah sie die Tasche. Rosa, modisch. Ein Markenname. Eine Tasche, wie Jens Holck sie auf Rathauskosten gekauft haben mochte.
Sie schaute auf den Anhänger. Gymnasium Frederiksholm auf der einen Seite, Vesterbrogade 96, Lottes Adresse, auf der anderen. Natürlich – Pernille und Theis hatten nichts von der Tasche wissen dürfen. Lund nahm sie aus dem Regal und stürmte damit hinaus, ohne den fuchtelnden, schreienden jungen Mann am Schalter weiter zu beachten.
Meyer würgte sie nicht ab.
»Hast du die Passagierlisten?«, fragte sie.
»Nein.«
Er schien nicht sprechen zu wollen.
»Du bist doch gerade im Auto unterwegs, Meyer.«
»Die streiken bei der SAS. Ich fahr zum Flughafen. Okay?«
»Gut. Ich hab ihre Tasche.«
Sie saß wieder in dem grünen Käfer und sah Nannas Habseligkeiten durch, die Tasche offen auf dem Beifahrersitz.
»Irgendein Hinweis, wo sie hinwollte?«
Ein Skizzenblock. Turnschuhe. Ein Badeanzug. Warme Kleidung. Preisschilder an den meisten Sachen. Sie zählte Meyer alles auf.
»Und kein Hinweis, mit wem sie wegwollte?«
»Nein.«
Lund hatte ein Paar Einweghandschuhe dabei. Riss die Hülle mit den Zähnen auf, streifte die Handschuhe über.
»Ich frag Birk Larsen«, sagte sie.
»Um Gottes willen, bloß nicht. Ich hab denen gestern gesagt, der Fall sei abgeschlossen. Die brauchen mal eine Pause.«
»Ja, hm … Ich lass mir was einfallen.«
»Lund!«
Birk Larsen fuhr pünktlich an dem indischen Restaurant vor. Da rief Pernille an.
»Die Bank will uns nicht helfen, Theis.«
»Was ist los?«
»Die wollen uns nicht helfen mit dem Haus. Aber vielleicht könnten wir einen Kredit auf die Firma aufnehmen?«
»Da laufen schon genug Kredite. Wir wollen das Haus doch verkaufen.«
Sie hörte sich ruhig an. Fast glücklich.
»Ich bin gerade dort. In Humleby. Du hast gar keine Gardinen aufgehängt.«
»Gardinen! Warum denken Frauen immer an Gardinen? Da werden Rohre und Stromkabel gelegt, da …«
»Aber es ist schön hier, auch ohne Gardinen.«
Birk Larsen blieb auf der Straße stehen. Verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln. Lachte zum grauen Winterhimmel hinauf.
»Frauen«, sagte er.
Er hörte ihre fröhliche Stimme. Sah ihr Gesicht vor
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