Das verfluchte Koenigreich
dasselbe Licht wie in meinem Traum.
Tania blickte auf. Über ihr war die Meeresoberfläche, die wie ein riesiges blaugraues Seidentuch aussah.
»Es ist, wie du sagst, Tania – alle haben Flügel«, stimmte Rathina zu und musterte die anmutigen Gestalten. »Wie merkwürdig.«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Connor.
»Im Elfenreich tragen nur die Kinder Flügel, Master Connor«, erklärte Rathina.
»Und die Lios Foltaigg«, fügte Tania hinzu. »Aber Rathina hat Recht – wir verlieren unsere Flügel im Alter von etwa zehn Jahren.«
Connor legte den Kopf schief. »Wir?«
»Wir. Elfen. Jetzt bring mich nicht durcheinander«, schimpfte Tania. »Tatsache ist, dass Erwachsene keine Flügel haben – außer denen hier …« Sie runzelte die Stirn und überlegte angestrengt, was das bedeuten könnte. »Caer Fior ist ungefähr zur Zeit der Großen Erweckung im Meer versunken, oder?«
»Klingt einleuchtend«, stimmte Connor zu.
»Vielleicht hatten vor der Großen Erweckung auch die Erwachsenen im Elfenreich Flügel.«
»Oder vielleicht hatten nur die Leute, die hier lebten, Flügel«, wandte Connor ein.
»Aber wenn das so wäre, warum sollten dann die Elfenkinder heute noch Flügel haben? Nein – es muss mehr dahinterstecken.«
»Schwester, wir müssen dringend ein Heilmittel gegen die Seuche finden«, erinnerte Rathina sie. »Alles andere ist unwichtig.«
»Ja, ich weiß«, seufzte Tania. »Aber wer sagt denn, dass diese beiden Dinge nicht zusammenhängen?«
»Wie das?«, fragte Rathina.
»Ich weiß nicht.« Tania starrte in den schimmernden Dunst, der vor ihnen lag. »Vielleicht werden wir es herausfinden, wenn wir Caer Fior erreichen.«
»Falls davon überhaupt noch etwas übrig ist«, warf Connor ein.
Als sie weitergingen, bemerkten sie überall um sich herum dunkle Formen: rissige Mauern, verfallene Gebäude, eingestürzte Türme, Trümmer und Steine. Lautlos huschten Fische zwischen den verfallenen Gemäuern hin und her. Zwischen den Steinen wuchs Seetang, der seine grünen Fäden dem gedämpften Licht entgegenreckte, das von der Meeresoberfläche durchsickerte. Krabben eilten davon und verschwommene Gestalten ergriffen blitzartig die Flucht, als sie die Eindringlinge erblickten. Ihre Füße wirbelten Schwebstoffe auf, bis das Wasser ganz trüb war.
Wohin Tania auch blickte – überall bot sich dasselbe Bild: Kein einziges Gebäude des Verlorenen Caer war heil geblieben und die meisten waren nur noch ein Haufen Steine. Alle Überreste waren mit Tang überwuchert und halb im Schlamm versunken.
Rathina schien etwas entdeckt zu haben, denn sie ging zielstrebig auf etwas zu. Tania wandte den Kopf um zu sehen, was ihre Schwester angelockt hatte. Zwei Säulen mit einem hohen, gewölbten Säulenkopf ragten unversehrt aus all dem Verfall auf.
Rathina starrte auf den Säulenkopf. Tania und Connor gingen zu ihr. Auf dem Säulenbogen waren Worte eingemeißelt. Tania konnte sie nicht entziffern, aber die Schrift glich der auf der Karte.
»Kannst du das lesen?«, fragte sie Rathina.
»Ja, das kann ich, aber es ergibt keinen Sinn«, erwiderte Rathina. »Oder zumindest kann ich mir keinen Reim darauf machen.«
»Jetzt sag schon, was dort steht«, drängte Connor.
»Sorai … cordai … balai …«, intonierte Rathina. »Endlos … Schlaf … Dorf …« Sie blickte die anderen an. »Aber die Buchstaben gehen häufig ineinander über, als bildeten sie ein einziges Wort. Ich verstehe nicht, was das zu bedeuten hat. Das Dorf des endlosen Schlafes?«
Tania trat durch den Säulenbogen und stand zwischen endlosen Reihen emporragender flacher Steinplatten – alle ungefähr hüfthoch und etliche Fuß breit. Tania kniff die Augen zusammen und überlegte, woran sie das erinnerte. Es kam ihr irgendwie vertraut vor.
Connor kam zu ihr. »Das ist ein Friedhof«, sagte er. »Wir stehen zwischen den Grabsteinen.«
»Ein Friedhof? Grabsteine?«, wiederholte Rathina. »Ich kenne diese Worte nicht.«
Tania schauderte.
Da geht jemand über mein Grab …
»Ein Friedhof ist ein Ort, wo die Toten hinkommen«, erklärte sie. »Das ist so üblich in der Welt der Sterblichen, Rathina. Wir haben besondere Orte, wo die Toten zur Ruhe gebettet werden. Wir graben ein Loch und legen den Toten hinein.«
»Und wir markieren die Stelle mit einem Grabstein«, fügte Connor hinzu, während er zwischen den dicht gedrängten Steinen herumging und seine Finger über die raue, verwitterte Oberfläche gleiten ließ.
»Das verstehe ich
Weitere Kostenlose Bücher