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Das vergessene Zepter

Das vergessene Zepter

Titel: Das vergessene Zepter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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aber nicht die Verursacher von Streitigkeiten, sondern die Opfer. Der Vater ist ein Tagelöhner, grau und ausgemergelt. Ein trauriger Mann mit leiser Stimme. Die älteste Tochter bringt den jüngeren Geschwistern Lesen und Schreiben bei und liest ihnen Geschichten vor. Sie achtet auf eine deutliche Aussprache, damit ihre Geschwister nicht den verschliffenen Dialekt der Eltern nachahmen. Das zweitjüngste der Kinder steckt sich etwas in den Mund, das wie Kot aussieht, aber auch eine Art Mürbegebäck sein könnte. Ein reicher Fremder mit einem von einer Kapuze verhüllten Gesicht betrachtet die Hütte, als hätte sie einen exquisiten Schauwert, und läßt rinwegesichtige Almosen über die splittrigen Holzdielen rollen. Die Kinder wimmeln auf der Jagd nach den Münzen umher wie struppige, bucklige Ratten. Die Mutter bietet sich feil. »Gao tritz urb riu kivut.« Kerzenlicht fällt unter die Kapuze des Fremden, als er über alles lacht: Es ist Rodraeg.
    Der zweitvorderste Raum schiebt den vordersten außer Sicht. Eine Welt kippt aus den Fugen und wird durch eine weitere ersetzt. Eine andere Landschaft.
    Die Hafen- und Glasfertigungsstadt Fairai auf halber Höhe der westlichen Küste. Die Straßen sind gerade und sauber. Eine Mutter, stolz und schön, mit ihrem einzigen, neunjährigen Sohn an der Hand. Der Junge sieht seiner Mutter ähnlich, hat dieselben großen dunklen Augen. Er betrachtet seinen eigenen Schatten, der im Sonnenlicht neben ihm herläuft und ihm Grimassen schneidet. Der Fremde mit der Kapuze kommt ihnen im flimmernden Licht der Mittagsstunde entgegen, unterhält sich freundlich mit der Mutter und streichelt dem Jungen über den Kopf. Das Gesicht des Fremden, als er die Kapuze zurückstreift, um die Mutter zu küssen, ist das von Dasco.
    Der dritte Raum tritt vor, kantet den zweiten hinfort.
    Die zerklüftete, dichtbewachsene Wildnis der Klippenwälder. Baum an Baum über Abhängen und Schluchten. Eine Holzhütte steht in einem rußigen Dorf. Zwei Jungen, offenbar Freunde, toben in der kargen Hütte herum mit einer Lanze, die sie dem Vater des einen entwendet haben. Ein Milchkrug geht zu Bruch. Der weiße Fleck, der sich auf dem Boden ausbreitet, zeigt den Umriß des Kontinents, wie man ihn von Karten kennt. Der Vater erscheint aus einer Kellerluke und droht, den einen der beiden Jungen, seinen eigenen Sohn, mit der Lanze zu töten. Der andere Junge geht mit trommelnden Fäusten dazwischen. Jemand pocht unerbittlich von außen an die Tür und stört den furchtbaren Streit. Der Vater öffnet und will den Fremden, der selbst nicht größer ist als ein Kind, mit seiner Lanze verscheuchen, doch der Fremde wirft ihm einen Lichtzauber entgegen und verdampft ihm so beide Augen. Der Vater windet sich mit ins Gesicht gekrallten Händen auf dem Boden. Die beiden Jungen klammern sich aneinander und sehen aus Augenhöhe in das grausame Gesicht, das in den Schatten der Kapuze liegt. Der Fremde ist kleinwüchsig, aber erwachsen, dunkelhäutig und unterernährt. Es ist der Gefangene, den das Mammut in Wandry befreit hat.
    Der hinterste Raum, nun vorne und überall um sie herum.
    Die Sonnenfelder. Weithin wogendes Ährengold. Die weiße Kleinstadt Abencan. Eine kleine weiße Schule. Drei weißgekleidete Kinder schreiben voneinander ab, toben dann um einen ziselierten Fontänenbrunnen herum – zwei Jungen und ein Mädchen. Sie rufen sich mit Namen: Baladesar, Rodraeg und Kiara.
    Sie erhalten Unterricht in Kalligraphie und Poesie. Der hübsche Knabe Rodraeg trägt ein Gedicht vor: »Erinnerst du dich noch / an alles / was anklang? / War alles / von echtem Belang? / Es nähert sich doch / jedes Ende / dem Anfang, / je weiter / du folgst / dem Gesang.«
    Eine mit einer Kapuze verhüllte Händlerin verkauft den Kindern frische Milch. Kiara macht einen Knicks vor ihr, Rodraeg und Baladesar knuffen sich gegenseitig mit den Ellenbogen und verbeugen sich dann wie junge Edelmänner. Die Fremde summt lächelnd ein Lied. Es ist Naenn.
    Der Raum würfelt sich selbst ins Nichts.
    ein zwischenraum
    Â»Ich finde es zum Kotzen hier!« stöhnte Hellas. Sie stützten sich auf allen vieren auf dem kargen Felsboden ab und versuchten ihrer Seekrankheit Herr zu werden. Sie waren nicht durch die Räume geschritten, die Räume waren durch sie hindurchgewuchtet worden. Sie waren geflogen,

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