Das verletzte Gesicht
kam, Vogelrufe erschollen, und das fruchtbare Tal vor ihm verströmte seinen süßlichen Duft.
Die Vegetation reckte sich dem Himmel entgegen, als wolle sie die Abendwolken streicheln. „Engelsflügel“ hatte er die Wolken als Kind genannt und immer das Gefühl gehabt, zu dieser besonderen Stunde an diesem besonderen Platz dem Himmel sehr nahe zu sein.
Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch das dichte Haar. Neue Erinnerungen tauchten auf. Hier hatte er in einem Mondragon-Lieferwagen seine ersten Liebeserfahrungen gemacht. Hier hatte er die Entscheidung getroffen, sich der Familie zu widersetzen und das Harvard-Stipendium anzunehmen. Hier hatte er geschworen, dass er eines Tages die Gegend verlassen und nie mehr zurückkehren würde.
Dann war er gegangen. Sein Leben in Chicago war mehr als ein paar tausend Meilen von seiner amerikanisch-mexikanischen Familie entfernt, es war Welten entfernt. Und da lag die Ironie. Wie kam es, dass er ungeachtet seines fernen und andersartigen Lebens sofort in alte Verhaltensmuster zurückfiel, sobald er keimkehrte? Es war, als folge er dem schlechten Drehbuch eines miesen Stückes. Sobald er die Pforten des Mondragon-Anwesens passierte, war er nicht mehr Mr. Michael Mondragon, der sein Harvard-Studium magna cum laude abgeschlossen und sich einen hart umkämpften Posten in einer der besten Architekturbüros von Chicago erobert hatte, der mehr in einem Jahr verdiente als sein Vater in zehn. Nein, in wenigen Minuten war er wieder der arme kleine Miguel, der grübelnde Außenseiter, der es gewagt hatte, den Schoß der Familie zu verlassen.
Entschlossen legte er die große manikürte Hand auf den Ganghebel. Er hatte zu hart gearbeitet und zu viel erreicht, um noch irgendwelche Rollen zu spielen. Er würde Vater, Mutter, Schwester und Bruder zeigen, wer er war. Beim letzten Blick auf die untergehende Sonne verzog er das Gesicht zu einem bittersüßen Lächeln.
Genauso gut konnte er versuchen, die Engelsflügel zu fangen.
Auf dem Familienbesitz waren die Hinweise auf den Verfall des Geschäftes unübersehbar. Die Außengebäude waren in schlechtem Zustand, der Pflanzenvorrat war mager, und den Restbeständen fehlte die Kraft und Üppigkeit, die Mondragon-Pflanzen berühmt gemacht hatten. Stirnrunzelnd fuhr er an den Hängen mit Viburnum, Euonymus und Immergrünen vorbei auf das kleine Stuckhaus mit dem roten Dach und dem großen Vorhof zu. Der 89er Chevy Pick-up seines Vaters parkte neben einigen neueren amerikanischen Wagen.
Das Haus sah noch so aus wie früher. Mamas hellgelbe Tür war mit Pinien und Efeuranken geschmückt. Hinter Mamas Spitzengardinen strahlten die Lichter, und Papa spielte Mariachi-Musik.
Sein Herz schlug schneller vor Erwartung – nein, sogar vor Freude. Er hatte kaum den Wagen geparkt, als die Eingangstür aufging. Sein Vater kam heraus, die Arme ausgebreitet, ein breites Lächeln auf dem wettergegerbten Gesicht. Michael war kindlich erfreut, dass sie offenbar auf ihn gewartet hatten.
„Er ist zu Hause!“ verkündete Luis, und seine Stimme hallte über den Hof. „Alle herauskommen, Miguel ist endlich da!“
Die hohen Willkommensrufe seiner Mutter und seiner Schwester Rosa ertönten. Dann kamen Rosas Kinder heraus, zögerlicher gefolgt von seinem Bruder Bobby.
Während Michael einen nach dem anderen umarmte, nahm er die schweren Aromen mexikanischer Weihnacht in ihrer Kleidung und ihren Haaren wahr: dunkle Schokolade, Vanille und Orangen.
Im Haus fühlte er sich versucht, einen Rundgang zu machen, in Schlafräume und Schränke zu schauen und zu sehen, ob er noch ein Zimmer hatte. Er war nervös und fühlte sich fehl am Platze. Die Familie sammelte sich jedoch freundlich schwatzend um ihn und redete von vergangenen Erlebnissen, die in der Erinnerung erst richtig schön wurden. Seit seinem letzten Besuch zu Hause waren immerhin etliche Jahre vergangen. Rasch nahm er die sanften vertrauten Klänge des Spanischen wieder auf, der Sprache seiner Familie. Die Zunge machte ihm bei einigen Vokalen und Konsonanten jedoch noch Schwierigkeiten, während er antwortete.
„Der kleine Francisco spricht besser Spanisch als sein Onkel“, neckte seine Mutter. Er lächelte nur. Das war ein alter Streit, der begonnen hatte, als er in der ersten Klasse und als einziger Mexikaner in seinem Jahrgang eines Abends beim Familiendinner verkündet hatte, er werde nur noch Englisch sprechen, wie die Nonnen es ihm aufgetragen hatten. Seine Mutter hatte gekränkt und verwirrt
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