Das verletzte Gesicht
verrichten konnte. Luis hatte sich oft bei Marta beschwert, sie habe die Gene bei Bobby und Rosa vertauscht.
Michael war in dem Bewusstsein aufgewachsen, von allen Familienangehörigen der mit dem indianischsten Aussehen zu sein. Ungewöhnlich groß wie sein Vater, mit dichtem Haar, war seine Haut recht dunkel, und die Gesichtszüge wirkten gemeißelt wie die einer Maya-Statue. Von allen Mondragon-Sprösslingen hatte nur er von den Kindern in der Schule Unfreundlichkeiten zu hören bekommen.
„Wir kommen nicht jeden Weihnachten zusammen“, begann Luis, und seine dunklen Augen strahlten, als er sich am Tisch erhob und das Weinglas zum Prosit hochhielt. „Wir sind zusammen – wie es eine Familie sein sollte.“ Sein Blick wanderte über die Anwesenden und blieb auf Michael haften. „
A la familia!“
„Auf die Familie“, wiederholte Michael auf Englisch und fing Bobbys amüsierten Blick auf.
„Du siehst gut aus“, sagte Bobby und musterte Michaels dunkles Jackett, das weiße Hemd und die Seidenkrawatte. Bobby hatte immer Wert auf sein Äußeres gelegt und Michael in der Jugend gnadenlos für seinen nachlässigen Kleidungsstil gerügt. „Armani, was? Wo sind die abgetragenen Jeans, die unpassenden Socken und Gott … erinnerst du dich an die Lederjacke?“
„Natürlich.“ Er lächelte wehmütig. „Ich wünschte, ich hätte sie noch.“
Als Junge hatte er immer ein Hemd getragen, auch im Sommer, damit seine ohnehin dunkle Haut nicht noch dunkler wurde. Er erinnerte sich, wie sehr er darin geschwitzt hatte, während die blasshäutigen Jungs in luftigen T-Shirts herumgelaufen waren. Er hatte jeden verdienten Cent beiseite gelegt, um sich die Lederjacke zu kaufen, und sie war seine zweite Haut geworden. „Meine Güte, wie ich diese Jacke geliebt habe.“
„Mag sein, aber was du da trägst, ist auch nicht übel.
Los gringos
in Chicago haben dich endlich gelehrt, wie man sich kleidet?“
Michael lächelte, ohne den Köder zu schlucken. In Wahrheit machte er sich nicht viel aus Kleidung. Alles, was gut geschnitten und schwarz war, stellte ihn zufrieden. Ihm fiel jedoch auf, wie blass und dünn Bobby war und wie lose seine Kleidung an ihm hing. „Fühlst du dich wohl, großer Bruder?“ fragte er besorgt und lehnte sich zu ihm hinüber.
Ein Schatten schien über Bobbys Gesicht zu huschen und verschwand. „Die Grippe“, erklärte er lächelnd und sah zu seiner Mutter hinüber. „Sie hat die Runde gemacht.“
„Sí
, es ist schrecklich“, bestätigte Marta. „Jeder kriegt sie. Einer von diese fürchterliche neue Erreger. Aus China.“ Sie bekreuzigte sich. „Sei vorsichtig, Miguel, dass du dich nicht ansteckst.“
„Ha!“ lachte Bobby plötzlich auf.
Luis starrte ihn an, den Löffel vor den fest verschlossenen Lippen. Bobby wurde ernst und zog sich in sich zurück.
Nach viel Kuchen und Kaffee versammelte sich die Familie wie jedes Jahr um den Baum, wo besondere Geschenke der Eltern an die Kinder verteilt wurden.
„Bobby, du bist der Älteste. Du hilfst Weihnachtsmann“, entschied Luis.
„Mit Vergnügen, Papa“, erwiderte Bobby.
Michael sah voller Zuneigung, wie sein älterer Bruder sich eine rote Nikolausmütze aufsetzte und mit lustigem „Ho-ho-ho“ die Geschenke verteilte. Obwohl Bobby ein bemitleidenswert dünner Nikolaus war, spielte er die Rolle für seine Nichten und Neffen mit Begeisterung, und die Kinder quiekten vor Vergnügen.
„Genug!“ bellte Luis. „Albere nicht herum.“
Bobby straffte die Schultern, lächelte und neigte den Kopf. „Gott segne uns alle“, sagte er voller Sarkasmuns, der überspielen sollte, wie gekränkt er war. „Sogar dich, du alter Miesepeter.“
Luis rückte sich brummelnd in seinem Sessel zurecht.
Bobby machte begeistert weiter, schüttelte die Päckchen und ließ die Kinder raten, was sie enthielten. Alle außer Luis lachten und klatschten, als die Kinder ihre Schätze auspackten. Luis saß mit Gönnermiene da und blickte wie ein König auf seine Untertanen.
Als die Kinder später mit ihren Geschenken spielten, warfen die Erwachsenen verstohlene Blicke auf die verbliebenen Päckchen, gespannt wie in Kindertagen.
Ehrfürchtiges Schweigen senkte sich über den Raum, als Bobby sein Geschenk öffnete und die Taschenuhr des Großonkels vorfand, desselben verehrten Onkels, der Luis das erstklassige kalifornische Land vererbt hatte. Rosa und Manuel waren gleichermaßen überrascht von einem Porzellanservice, das sich seit Generationen in
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