Das verletzte Gesicht
Ich buddele nicht mehr in der Erde.“
„Madre de Dios
. Wie kannst du ertragen, arbeiten weit weg von Boden? Warum du willst spielen mit Betonblöcken in Chicago, wenn du kannst haben all diese feine Erde in Kalifornien? Dieses wertvolle Land. Ich frage dich.“
Michael hörte das Flehen hinter den protzigen Worten, und es tat ihm weh. Sein Vater war ein stolzer Mann, der als Waise von seinen Verwandten in Mexiko mit Härte aufgezogen worden war. Mit zweiundzwanzig hatte er seine Familie nach Kalifornien gebracht. Ein unverheirateter Onkel war gestorben und hatte ihm, seinem einzigen Neffen, in Kalifornien ein kleines Stück Land hinterlassen. Sobald er das fruchtbare Tal sah, hatte Luis Mondragon ein Ziel im Leben gehabt. Alle lukrativen Kaufangebote ausschlagend, hatte er das Land für die Zukunft bewahrt. Ein riskanter Schritt für einen armen Mexikaner mit drei hungrigen Kindern.
Sobald er etwas Geld gespart hatte, war Luis mit seiner Familie in die Vororte gezogen und hatte eine kleine Firma für Gartenarbeiten gegründet. An sieben Tagen die Woche arbeitete er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang wie ein Ochse im Geschirr. Er hasste die Vororte, doch Marta hatte darauf bestanden, dass ihre Kinder mit denen der Gringos in dieselben Schulen gingen und von denselben Nonnen unterrichtet wurden. Außerdem, was hätte er anderes tun sollen? In den Vororten war das Geld. Den Leuten gefielen sein Witz und seine Kräfte, und das Geschäft blühte. Sobald die Söhne größer waren, halfen sie für ein Taschengeld Rasen mähen und Hecken schneiden.
Ihr Vater war knauserig mit Geld, aber großzügig mit seinem Wissen. Er lehrte Roberto und Miguel alles über Boden und Pflanzen und sämtliche Familiengeheimnisse, wie man kräftige Pflanzen zog. Jeder verdiente Cent wurde wieder in das Land gesteckt. Anfänglich verkaufte er in der eigenen Gärtnerei nur einige ausgesuchte Pflanzen, die seine Kunden verlangten. Augenzwinkernd und mit ansteckendem Lachen überredete er seine Kundschaft jedoch mehr und mehr, auch Ungewöhnliches zu versuchen. Pflanze für Pflanze schuf Luis den guten Ruf der Mondragon-Gärtnerei.
Michael war klar, dass es seinem alten Herrn das Herz brechen musste, ein Lebenswerk durch Hitze, Dürre und Konkurrenz zerstört zu sehen. Bei genauer Betrachtung schien die Dürre auch im attraktiven Gesicht seines Vaters tiefe Spuren hinterlassen zu haben. „Was soll ich tun, Papa?“ fragte er schlicht.
Luis sah ihn forschend an und entspannte sich zufrieden lächelnd. „Ach, Miguel, du bist wahrer Sohn. Ich sehe so viel von mir in dir.“
Michael entzog sich der Umarmung und rebellierte gegen den Vergleich. Er war ganz und gar nicht wie sein Vater. „Papa …“
„Siehst du, Marta“, unterbrach Luis ihn und drückte ihn fest, „ich habe dir gesagt: Mein Sohn hilft mir. Ich habe
einen
guten Sohn.“
Michael sah seine Mutter über den Kopf des Vaters hinweg an.
„Nein, Luis“, widersprach sie ruhig, „du hast
zwei
gute Söhne.“
Das Essen war vorbereitet, und die Familie versammelte sich um den langen dunklen Holztisch, während Marta stolz die Lieblingsgerichte auftrug. Ceviche, geröstete Schweinshaxe in Adobe-Sauce, Maispudding und grüner Reis. Das Dessert bestand aus nicht weniger als vier Kuchen mit frischen Erdbeeren und Sahne.
„Setz dich jetzt, Marta!“ kommandierte Luis. „Genug! Du rennst herum wie Kaninchen. Ich werde müde von Zugucken. Setz dich. Es ist Zeit zu essen.“
Nach einem prüfenden Blick, ob Salzstreuer, Butter oder Salsa fehlten, nahm Marta zögernd ihren Platz neben Luis ein.
Während Luis das Gebet sprach, schweifte Michaels Blick über die am Tisch versammelten Gesichter. Seine Familie spiegelte Mexikos reiche und wechselvolle Geschichte wider. Sein Vater war immer noch ein viriler, gut aussehender Mann, groß mit dichtem, grau meliertem Haar und buschigen Brauen. Seine Mutter Marta hatte so helle und zarte Haut wie die Madonnen auf den Bildern, die sie so liebte. Ihr angegrautes blondes Haar war zu einem Knoten geschlungen, was ihr zartes Patriziergesicht und ihre spanische Abstammung betonte.
Sein Bruder Bobby ähnelte ihr am meisten. Blond und hellhäutig, war er von zarter Statur. Sein keckes Lächeln schnitt Grübchen in ein ohnehin blendend geschnittenes Gesicht. Seine Schwester Rosa war ebenfalls blond, doch zu ihrem Leidwesen groß und breitschultrig wie er und sein Vater. Sie war eine kraftvolle Frau, die schwere Maschinen heben und Männerarbeit
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