Das verletzte Gesicht
traurigen Augen, der dürren, schlaksigen Gestalt und dem komischen Gesicht sah. Die Erinnerung an die Einsamkeit ihrer Kindheit drückte ihr wie ein bleiernes Gewicht aufs Herz. Sie dachte daran, wie sie durch die wohlhabenderen Viertel spaziert war und darauf gewartet hatte, dass ihre Mutter mit Putzen fertig wurde. Das Warten hatte ihr nichts ausgemacht. Diese Häuser lagen weit weg von ihrer lauten kleinen Wohnung, und sie sah gern durch die Fenster auf Menschen in schöner Umgebung. Sie mussten glücklich sein, in all dem Luxus leben zu dürfen.
„Miss Godfrey?“ drängte Vicki.
Charlotte schreckte auf. „Wie bitte? O ja, ich versuchte mich zu erinnern“, entschuldigte sie sich, um Konzentration bemüht. Herrgott, diese zusätzliche Tablette zeigte Wirkung. Ihr Hirn war wie benebelt. „Ich … ich erinnere mich nicht sehr gut an meine Kindheit. Zumindest weiß ich nicht mehr, wie ich aussah.“ Die Lügen ließen ihren Kopf noch heftiger schmerzen. Wie lange musste sie das noch durchhalten?
„An was erinnern Sie sich denn?“ bohrte Vicki weiter.
Charlotte seufzte tief. „An triviale Dinge.“ Sie rieb sich die Schläfen. „Ich war beispielsweise ein Bücherwurm. Besonders Charles Dickens habe ich verschlungen. Ich wünschte mir immer einen Garten, und natürlich erinnere ich mich an die Spiele.“ Sie schluckte wieder mit trockener Kehle und erinnerte sich, wie oft sie das Opfer grausamer Spiele geworden war.
„Mit den Gerüchten, die eine Berühmtheit umgeben, ist immer schwer zu leben“, fuhr Vicki fort und wechselte das Thema. „Aber um Sie scheinen sich besonders viele Gerüchte zu ranken. Sie waren auf den Titelseiten fast aller Magazine und scheinen ein Liebling der Klatschpresse zu sein.“
„Ich weiß nicht, warum. Ich führe ein ziemlich langweiliges Leben.“
„Vielleicht weil sich die Menschen gerade vom Unbekannten angezogen fühlen. Ihre Sucht nach Privatsphäre ist so legendär wie Ihre Schönheit.“
„Ist das so? Ich bin eben gern allein. Was hoffen die Leute zu entdecken? Wenn ich nicht arbeite, jäte ich im Garten Unkraut.“
Vicki lächelte flüchtig. „Nun, ist es nicht beispielsweise so, dass man Sie aus Ihrem letzten Film entließ? Am Set kursierten Gerüchte, Sie seien voll gepumpt mit Drogen gewesen, hätten sogar einen Zusammenbruch gehabt.“
Charlotte atmete tief durch. Ohne hinzuschauen wusste sie, dass Freddys Lächeln verflogen war und er vorgebeugt gespannt auf ihre Antwort wartete, bereit einzuschreiten. Sie entschied sich für die Wahrheit.
„Ich war krank“, gestand sie. Vickis Brauen gingen hoch in Erwartung der großen Beichte. „Ich hatte eine schreckliche Grippe verschleppt.“ Vickis Lächeln schwand, und Charlotte wusste, dass sie ihr das nicht abnahm. „Die Rolle bedeutete mir viel, und meine Mutter brachte mir bei, Krankheit sei eine Schwäche, die man durchstehen müsse. Leider entwickelte sich die Grippe zu einer Lungenentzündung.“ Sie zuckte leicht die Achseln. „Man sagte mir, es sei ernst. Und ich muss zugeben, ich hatte Angst.“
„Sie verschwanden.“ Vickis Blick wurde hart.
„Ja.“ Wieder tauchte eine flüchtige Erinnerung an Michael auf. Seine Berührungen, sein Blick, seine Liebe waren für sie gewesen, was Sonne, Erde und Luft für den Garten waren.
Sie hob eine zitternde Hand ans Gesicht, doch ein warnender Blick von Freddy mahnte sie, nichts zu verraten. Mit einer geschickten Drehung der Hand legte sie die schlanken Finger unter das Kinn.
Vicki wartete mit der Geduld des Profis.
„Ich bin nicht wirklich verschwunden“, erklärte Charlotte. „Das klingt so geheimnisvoll. Ich habe lediglich einige Zeit allein auf dem Land verbracht, um meine Gesundheit wieder herzustellen.“
„Wie
Camille
? Sie bekamen einen Oscar für diese Rolle.“
Charlotte lachte leicht, entschlossen, die Kontrolle über das Interview zurückzuerlangen. „Ja, vermutlich. Das Leben imitiert die Kunst … und umgekehrt.“ Sie lächelte überzeugend. „Ich habe aus Gesundheitsgründen darum gebeten, mich aus meinem letzten Film zu entlassen“, betonte sie. „Die Tabletten, die ich nahm, waren mir verschrieben worden. Es ist allgemein bekannt, dass ich mich sonst strikt auf Vitamine und Kräuter verlasse.“ Sie hob eine Hand. „Ich schwöre, ich kann keine Vitaminpille mehr schlucken, ohne als drogensüchtig zu gelten.“
Vicki lächelte verschlagen, und Charlotte wurde klar, dass ihre Gastgeberin die Samthandschuhe auszog. Sie
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