Das verletzte Gesicht
sah ihm nicht ähnlich, so verunsichert aufzugeben. Sie hingegen blickte jetzt ruhig und gelassen auf ihre Hände in der Sicherheit ihrer unglaublichen Schönheit.
Ihm kamen Zweifel. Wurde er zum Narren gehalten? Konnte jemand wie sie überhaupt so naiv sein? Vielleicht hatte er sich geirrt, und sie war eine geschickte Verführerein, eine Circe. Wie viele Männer hatte sie schon so hereingelegt und gequält? Der Gedanke war mit einem Stich der Eifersucht verbunden. Er fühlte sich wie ein Süchtiger. Der Abend sollte noch nicht enden, jedoch wusste er nicht, wie er das verhindern konnte. Das Schweigen dauerte an und wurde unbehaglich. Charlotte runzelte leicht die Stirn.
„Gute Nacht dann.“ Er wandte sich zum Gehen.
„Michael“, sagte sie so leise, dass er nicht sicher war, es richtig gehört zu haben. Er sah auf seinen Arm. Sie hatte die Hand darauf gelegt. „Hattest du jemals das Gefühl …“ Sie machte eine Pause und betrachtete die Falte, die sie in seinen Ärmel machte. „Hattest du jemals das Gefühl, dass eine Kleinigkeit etwas grundlegend verändert und dir plötzlich alles klar wird. Dass plötzlich alles … anders ist?“
„Ja“, bestätigte er verwundert. Konnte sie wissen, dass es ihm an jenem Tag, als er sie in der Gärtnerei gesehen hatte, so ergangen war? Vielleicht war alles vorbestimmt gewesen, der Hilferuf seines Vaters, seine Mitarbeit in der Gärtnerei. Vielleicht hatten alle Ereignisse der letzten Jahre ihn an diesen Punkt geführt, um ihr zu begegnen? „Ja“, bekräftigte er, „das Gefühl kenne ich.“
Lächelnd schob sie ihm die Hand aufs Herz, und er bedeckte sie mit seiner. „Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Bitte, ich möchte, dass du bleibst.“
10. KAPITEL
S ie führte ihn durch das Haus, das bis auf die Küche unbeleuchtet war.
„Melanie?“ fragte er.
„Sie ist nicht da.“
Er drückte ihr nur stumm die Hand.
Es schien ein langer Weg zu sein zu ihrem Schlafzimmer, für sie ein Lebensweg von zweiundzwanzig Jahren. Doch Michael war der Richtige, kein Zweifel. Die bewundernden Blicke anderer Männer bedeuteten ihr nichts. Michael faszinierte sie, aber es waren vor allem Kleinigkeiten, die ihr das Gefühl gaben, ihm sehr nahe zu sein. Beispielsweise seine Art, ihr entspannt und aufmerksam, auch amüsiert zu lauschen und das Aufleuchten der Augen bei manchen Bemerkungen. Zu sehen, wie er mit den Fingern das beschlagene Weinglas entlanggefahren war, hatte sie geradezu erregt.
Auch wenn sie ihre Hemmungen nicht ganz ablegen konnte, sehnte sie sich nach seiner Umarmung. Der Kuss hatte ihr schon ein wenig ihre Angst genommen.
In ihrem dunklen Zimmer angelangt, tastete sie automatisch nach dem Lichtschalter. Doch Michael hielt ihre Hand fest und küsste ihr jeden Finger einzeln.
„Deine Hände sind eiskalt. Frierst du?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Warte.“ Er ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Blasses Mondlicht erhellte den Raum und ließ sein weißes Hemd aufleuchten, dass es einen deutlichen Kontrast zur gebräunten Haut bildete. Überhaupt war er von Gegensätzen gekennzeichnet: hell und dunkel, sanft und stark. Sie hingegen schien nur aus Schatten und Geheimnissen zu bestehen. Es wird alles gut, beschwichtigte sie sich und dachte schuldbewusst an die Lügen, die sie ihm aufgetischt hatte. Sie würde ihm bald die Wahrheit sagen.
Erschrocken hörte sie das Aufziehen eines Reißverschlusses. Blitzartig tauchte das Bild von Lou Kopp vor ihr auf. Schaudernd wandte sie sich ab.
Michael streckte die Arme nach ihr aus, doch sie wich zurück. „Charlotte“, flüsterte er und wartete mit offenen Armen. Nackt, schlank und breitschultrig, die Haut tiefbraun, das lange wellige Haar auf die Schultern fallend, sah er fabelhaft aus. „Charlotte, du zitterst. Komm her,
Querida
.“
Seine zärtliche Aufforderung ließ die Erinnerung an Lou Kopp verblassen. Sie kam in Michaels Arme und umschlang ihn fest.
„Michael“, begann sie langsam. Die Lippen auf seiner Brust, spürte sie seinen Herzschlag. „Du solltest wissen …“
„Was, meine Süße?“ Er küsste ihr Stirn und Wangen.
Sie genoss die prickelnden Zärtlichkeiten und legte seufzend den Kopf zurück. „Ich habe es noch nie gemacht.“
Er wich leicht zurück und sah sie forschend an. „Was sagst du da? Du hast noch nie …“
„Nein, ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen.“
Er betrachtete sie einen Moment und konnte es offenbar nicht fassen. Ein Lächeln breitete
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