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Das verletzte Gesicht

Das verletzte Gesicht

Titel: Das verletzte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Monroe
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Pfiff und schwenkte eine Hand, als hätte er sie verbrannt. Michael runzelte leicht die Stirn und schüttelte kaum merklich den Kopf, doch das nützte nichts. Sobald sie an seinem Lieblingstisch am Fenster saßen, umschwirrten zwei Pagen Charlotte wie Bienen einen Honigtopf. Sie füllten ihr Wasserglas auf und gaben ihr Butter auf den Teller. Als ein hingerissener Achtzehnjähriger ihr auch noch die Serviette auf dem Schoß glatt streichen wollte, entriss Michael sie ihm mit finsterer Miene.
    „Tut mir Leid“, entschuldigte er sich und reichte ihr die Serviette. „Die sehen nicht oft eine so hinreißende Schönheit.“
    „Ist nicht Ihre Schuld“, erwiderte sie verunsichert. „Man sagte mir schon, ich müsste mich daran gewöhnen.“
    Er zog die Brauen hoch. „Ach ja, das hässliche Entlein.“ Er sah, wie sie die Stirn kraus zog, und winkte dem Kellner, der eine Flasche Pinot Grigio auf den Tisch stellte. Nachdem er probiert hatte, nahm er die Flasche und schenkte Charlotte ein. Sie trank langsam, die schmalen Finger um das Glas gelegt. Ihre Haut schimmerte im Kerzenlicht.
    Er begehrte diese Frau, war sich jedoch klar, dass er vorsichtig vorgehen musste.
    Die emsigen Kellner brachten Pasta, marinierte Gemüse, würzige Würste und duftenden, cremigen Käse. Charlotte aß hemmungslos und genoss die Köstlichkeiten, während sie Michael Geschichten aus ihrem Leben erzählte.
    Geschichten waren es in der Tat. Alles erfunden, gewürzt mit kleinen Wahrheiten. Ihre Mutter war Witwe und lebte bequem von dem Geld, das der Vater ihr hinterlassen hatte. In ihrer Freizeit malte sie und war bei Kollegen sehr angesehen. Nein, er würde ihre Werke nicht kennen. Ihre Mutter stellte nicht mehr aus. Ihr Vater starb, als sie noch klein war, doch sie erinnerte sich gut an ihn. Er sah blendend aus, ein gütiger freundlicher Mann. Sie hatte ihn sehr geliebt. Vom Vermögen des Vaters war nicht mehr viel übrig, deshalb lebte die Mutter bescheiden.
    Sie erzählte, wie sehr sie an der High School und auf dem College die Schauspielerei geliebt hatte. Mochte er Shakespeare? Sie hatte viele Rollen gespielt, Julia, Ophelia, Portia.
    Während die Kerzen herunterbrannten, plauderte sie über ihr erfundenes Leben. Sie erzählte, wie wild sie als Kind getanzt hatte, wenn ihr Vater die Ungarische Rhapsodie spielte – auf dem alten Steinway der Familie. Charlotte Godowski wäre vor Angst vergangen, doch Charlotte Godfrey wurde immer lebendiger beim Erzählen und füllte die Lücken ihrer Biografie mit Anekdoten, die sie selbst glaubte.
    Was waren schon Erinnerungen? Diese sentimentalen Geschichten, die sie heute Abend erfand, würden ihre Erinnerungen werden.
    Michael lauschte zurückgelehnt, verliebt in den Klang ihrer Stimme und die unbewussten kleinen Gesten, wenn sie sprach. Es gefiel ihm, wie sie mit ihrem Haar spielte oder gelegentlich seine Hand berührte, wenn sie etwas betonen wollte. Besonders mochte er, wenn sie über seinen Ärmel strich, während sie sich an ein Detail zu erinnern versuchte. Sie war sich ihrer eindrucksvollen Gestik beim Sprechen offenbar nicht bewusst. Manchmal entdeckte er einen traurigen Ausdruck in ihren Augen, wenn sie über eine Antwort nachdachte. Doch sobald sie wieder redete, richtete sie den lebhaften Blick auf ihn, als versuche sie, seine Reaktion auf ihre Erwiderung einzuschätzen.
    Er fühlte sich geschmeichelt durch ihre Aufmerksamkeit und begehrte sie mehr denn je. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte sie nicht nur die Aufmerksamkeit aller Kellner auf sich gelenkt, sondern auch die aller heißblütigen Männer im Lokal.
    Als Obst und Pralinen zum Dessert gereicht wurden, war es draußen fast dunkel, und die Kerzen waren zu Stummeln heruntergebrannt.
    „Keinen Bissen mehr“, seufzte Charlotte, lehnte sich zurück und klopfte sich auf den flachen Bauch.
    „Vielleicht eine Pflaume?“
    Zögernd nahm sie ihm die Frucht ab, biss hinein und leckte sich den Saft von den Lippen, ohne zu ahnen, welche Wirkung das auf ihn hatte.
    Michael straffte sich, winkte dem Kellner und beglich die Rechnung. Er reichte ihr die Hand. „Sollen wir gehen?“
    Sie nickte, betupfte sich mit der Serviette den Mund und legte sie auf den Tisch. Danach erhob sie sich graziös.
    Den Heimweg legten sie in angenehmem Schweigen zurück, nur von der Musik aus dem Radio unterhalten. Die feuchte kalifornische Luft duftete nach Pinien und wildem Lonicera. Über den dichten Baumwipfeln glitzerten Sterne, und die Nachtinsekten

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