Das verletzte Gesicht
schaute aus dem Fenster und sah die Sonne durch die Wolken brechen.
14. KAPITEL
C harlotte flog Wochen später nach Abschluss der Dreharbeiten nicht gleich nach Kalifornien, sondern nach New York zu einem Finanzberater, den ihr der Filmproduzent empfohlen hatte.
Sie hatte noch nicht viel zu investieren. Jedenfalls an den Maßstäben des Produzenten gemessen. Nach ihren Maßstäben war es allerdings ein kleines Vermögen. Irgendwann in den letzten Wochen hatten sich ihre Lebensprioritäten herauskristallisiert. Zwischen Melanies schrecklichem Selbstmordversuch und Michaels Liebeserklärung war ihr bewusst geworden, wie wankelmütig das Schicksal und wie wertvoll die Liebe war. Sie wollte Beständigkeit in ihrem Leben und war entschlossen, danach zu streben.
Ihr Besuch beim Bessemer Trust dauerte zwei Stunden, in denen sie sich ein beachtliches Aktienpaket zulegte. Ein Teil davon waren hoch riskante Anlagen, die ihr Kapital in kürzester Zeit verdoppeln … oder vernichten konnten. Kenneth Clark hatte sich beeindruckt gezeigt von ihrem Geschäftssinn und Durchblick im Finanzwesen. Immerhin war sie eine exzellente Buchhalterin gewesen. Dass sie jetzt ihr eigenes Geld investierte, schärfte nur ihre Fähigkeiten.
Bei der Rückkehr nach Kalifornien machte sie auf dem eingeschlagenen Weg weiter. Ihr erster Termin führte sie zu Mrs. Delaney, der älteren Witwe, der das gemietete Haus gehörte, in dem sie wohnten. Sie war eine frustrierte, gereizte alte Dame, die sich ungerecht von der Welt behandelt fühlte. Charlotte gelang es jedoch, sie schnell für sich einzunehmen. Sie half ihr, die Rosen zu wässern, und warf ihren beiden übergewichtigen Scotchterriern Stöckchen zum Apportieren.
Mrs. Delaney hatte selten Besuch, lud niemals ein und sah außer ihrer Haushälterin kaum einen Menschen. Charlotte hatte Geduld mit ihr und dachte dabei an ihre Mutter. Sie gab ihr Zeit, ihren Frust abzulassen und endlos über ihre schäbigen Verwandten herzuziehen. Schließlich lenkte sie die Unterhaltung vorsichtig auf angenehmere Themen: die Hunde, den Garten und Mrs. Delaneys Sammlung an japanischem Porzellan. Wenn man ihr die Gelegenheit dazu gab, konnte die alte Dame diese Themen durchaus angeregt diskutieren.
Nachdem sie Tee getrunken hatten, stimmte sie schließlich zu, Charlotte das kleine Haus am Hang zu verkaufen.
„Du hast was?“ Melanie legte in einer Geste größter Verblüffung beide Hände an die Wangen.
„Ich habe das Haus gekauft“, erwiderte Charlotte gespielt lässig und stellte ihre Tasche auf den Tisch im Flur. Sie warf der völlig perplexen Melanie einen Seitenblick zu, brach plötzlich in Lachen aus und umarmte sie glücklich. Sie nahmen sich bei den Händen und tanzten und sangen wie die Kinder.
„Wie hast du es angestellt, die alte Streitaxt zum Verkauf zu bewegen?“
„Abgesehen von ihrer Bärbeißigkeit ist sie eigentlich sehr nett. Sie erinnerte mich sehr an meine Mutter. Ein schweres Leben und viele Enttäuschungen können einen Menschen bitter machen. Das Haus war ihr eigentlich gleichgültig. Sie hat es nur aus Gewohnheit behalten. Geld hat sie genug. Sie ist nur einsam. Vielleicht sollten wir sie gelegentlich zum Tee oder auf eine Partie Canasta einladen. Sie spielt gern Karten, genau wie meine Mutter.“
Ein Anflug von Heimweh versetzte ihr einen kleinen Stich. Jeden Monat hatte sie Helena einen großen Scheck und einen langen Brief geschickt und ihr alles berichtet, was in ihrem Leben geschah. Sie hatte von ihren Träumen, Hoffnungen und Erfolgen geschrieben und ihre Mutter gebeten, zu ihr nach Kalifornien zu ziehen und nie mehr zu arbeiten.
Helena antwortete nicht, und die Schecks kamen uneingelöst zurück.
„Wenn du etwas haben willst, Charlotte Godfrey, bekommst du es auch“, stellte Melanie fest, die Hände auf die Hüften gestemmt. „Ich habe es gleich in deinen Sternen gelesen. Du bist ein Löwe durch und durch.“ Sie verschwieg, dass sie auch schwierige Zeiten für sie vorausgesehen hatte. Negative Prophezeiungen behielt sie immer für sich.
„Dann höre mein Brüllen.“ Sie kicherte. „Hier, ich habe noch etwas mitgebracht.“ Sie reichte Melanie ein Päckchen. „Für dich.“
„Was ist das?“ fragte sie nachdenklich, brachte den Packen Broschüren zum Tisch und ging ihn gedankenverloren durch. „Kochschule? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich noch mal die Schulbank drücke? In meinem Alter? Sei nicht albern. Schule ist etwas für junge Leute. Man würde mich
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