Das verlorene Ich
dessen Lider geschlossen waren, und sie begriff, daß sie den Moment fürchtete, da sie sich öffnen würden. Schnell blickte sie zur Seite, dorthin, wo der Grabstein stand, und aus einer Eingebung heraus fragte sie: »Kann ich Sean sprechen? - Bist du Sean?«
»SEAN?«
»Sean Lancaster!« Sie verdrängte, wie wahnsinnig sie bereit sein mußte, wenn sie mit einem Erdhaufen sprach. Wenn sie auch nur glaubte, einen sprechenden Erdhaufen zu sehen ... »Ich habe nur diese Adresse und hoffte .«
Sie verstummte.
Und dann schrie sie.
Weil sie noch nie etwas Entsetzlicheres gesehen hatte als das, was hinter den Lidern aus schwarzem Grund lauerte - Lider, die sich in diesem Moment hoben. Zeitlupenhaft langsam.
Und wenn sie eben noch geglaubt hatte, selbst wahnsinnig zu sein, so wußte sie in dem Moment, als sie den Wahnsinn, das unbe-schreiblich irre Funkeln in den glosenden Pupillen dort sah, daß sie sich geirrt hatte.
In ihr fraß nicht einmal ein schwacher Abglanz dessen, was zu ihr herüberglotzte. Durch die Dämmerung hindurch. Durch die erstarrte Luft. Blicke, die sie wie Röntgenstrahlen durchleuchteten und wie Klingen sezierten, um ihr Innerstes bloßzulegen, sich die Antworten selbst zu holen, die Lilith ihnen verweigerte .!
»Neeeiiinnn!«
Plötzlich war außer dem maskenhaft abscheulichen Gesicht noch etwas anderes in dem Hügel.
Arme!
Arme, die sich ausstreckten und öffneten, als erwarteten sie, daß Lilith sich von ihnen umschlingen und kosen lassen würde wie eine verloren geglaubte, heimgekehrte Toch-
»Neeeiimnn!«
Sie wußte nicht, woher sie die Kraft nahm, aber die Entschlossenheit, mit der sie sich gegen ihre Fesseln stemmte, reichte nun doch, sie zu sprengen.
Die Schlingen fielen von ihr ab!
Taumelnd rang Lilith um ihr Gleichgewicht, vermied einen Sturz und begann zu rennen. Weg von dem Grab - weg von dem Hügel, dem Gesicht und den tumben Armen ...
»Helft mir!« schrie sie. »Hört mich denn keiner? Du da! Anhalten ...!«
Winkend stolperte sie auf einen maroden Lastwagen zu, der beinahe im Schrittempo fuhr und dessen offene Ladefläche heillos mit Schrott und sonstigem Gerümpel überladen war. Hinter der Scheibe des Führerhauses erkannte Lilith zwei Personen, Männer, deren Gesichter dreckverschmiert waren und vor Schweiß troffen.
Der Beifahrer schaute einige Male in Liliths Richtung, zeigte aber keinerlei Regung, obwohl ihre offensichtliche Panik und Verzweiflung eigentlich keinen Menschen hätte völlig kalt lassen dürfen.
Aber er behandelte sie wie Luft, als sähe er einfach durch sie hindurch .
Das tut er auch!
Lilith wußte nicht, woher die plötzliche Gewißheit kam. Sie gab das Winken und Schreien, das ohnehin niemand hörte, auf und konzentrierte sich nur noch auf ihr Rennen.
Als sie über die Schulter blickte, hatte sie sich weit von dem Grab -stein entfernt, und trotzdem . kam die Straße nicht näher!
Verdammt, wach auf! Du mußt eingeschlafen sein! Das träumst du bloß ...!
Unmittelbar vor ihr brach die Erde auf.
Ein Hügel.
Ein Gesicht.
Und eine fast schon beleidigt klingende, brodelnde Stimme, die kategorisch erklärte: »GENUG! KOMM JETZT ZU MIRRR!«
Arme, vor denen es kein Entrinnen gab, griffen nach Lilith, packten sie mit kalter, unbeugsamer Härte und zogen sie dann mit sich dorthin, woher sie gekommen waren.
In die Tiefe.
Das letzte, was Lilith Eden fühlte, war Erde in ihrem Mund, in ihrer Nase und ihren Augen.
Dann .
*
Paris
»Mein Gott!«
Hector Landers verzog unwillig das Gesicht, als Natalja unter ihm diese Worte stöhnend ausstieß.
»Wirst du denn nie müde?« fragte sie, lächelnd allerdings, nicht vorwurfsvoll. Und Landers wertete das als Aufforderung, sie davon zu überzeugen, daß sie recht hatte.
Draußen begann sich die Nacht über Paris zu senken, während er sich ein weiteres Mal in Natalja »vertiefte«. Er wußte nicht mehr, zum wievielten Male in den vergangenen Stunden.
Mit ihr zu schlafen war kein Vergleich zu dem, was er mit Lilith Eden getan hatte. Im nachhinein schien es Landers, als hätte etwas Liliths Leidenschaft gebremst. Natalja indes vergalt ihm alles, was er ihr angedeihen ließ, doppelt und dreifach.
Als er seine Bewegungen nun etwas langsamer werden ließ, schlang sie ihm blitzschnell die Beine um den Oberkörper und drehte ihn mit einem fast schmerzhaften Ruck aufs Kreuz, um schon in der nächsten Sekunde rittlings auf ihm zu sitzen.
»Wozu so eine Nahkampf-Ausbildung doch gut sein kann«, grinste sie
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