Das verlorene Ich
sagte er. »Ich hoffe, du läßt mich we-nigstens das für dich regeln?«
»Wenn deine Kreditkarten noch gültig sind .«
Er zuckte die Schultern. »Das läßt sich herausfinden, oder?«
Sie schwieg und versuchte in seinen Augen zu lesen. Fast belauerten sie einander.
Freunde, dachte Lilith, sollten das nicht tun.
Dachte es und war unsicherer denn je, was sie von dem Mann, der zum gleichen Zeitpunkt wie sie seine Erinnerung verloren hatte, halten sollte .
*
Zwei Tage später, Frankreich
Es war in einer Nacht wie dieser geschehen. Damals.
Ein nicht enden wollendes Gewitter entlud seit dem Abend seine Gewalt über Paris, als sollte die Stadt in dieser Nacht vergehen. Sturm trieb Regen in die Straßenschluchten und Gassen, so dicht und alles Licht schluckend, daß sie schwarz wie mit kochendem Teer ausgegossen dalagen. Nicht länger jedoch als für eine halbe Minute. Spätestens dann zerriß der nächste Blitz das pechschwarze Gewölk und tauchte Paris in überirdische Helligkeit, strahlender als die eines jeden Tages, und doch auch unwirklich wie in einem Traum.
»Ein Alptraum«, flüsterte Giordan Vautier gegen die vom Boden bis zur Decke reichende Panoramascheibe. »Mein Alptraum, der in Nächten wie dieser immer wiederkehrt.«
Mochte Paris auch finster wie etwas zu Tode Verbranntes tief unter ihm liegen, sein eigenes Spiegelbild, dem er gegenüberstand, schien Giordan Vautier noch düsterer. Fast wollte er nicht glauben, daß das Glas wirklich ihn zeigte. Er konnte diesem Mann nicht gleichsehen, schien er ihm doch wie ein Dämon.
Vautier lächelte, bitter und böse in einem.
Vielleicht ließ die Spiegelung ja jenen Dämon zutage treten, der in ihm hauste, seit Jahren schon. Und der in Nächten wie dieser erwachte, um ihn zu quälen - indem er doch nichts anderes tat, als ihn zu erinnern. An jene andere, jahrealte Nacht. Die in seinen Gedanken so jung schien, als wäre sie die gestrige gewesen.
Giordan Vautiers wirkliches Gesicht, jenes also, das andere sahen, war schlicht das eines in die Jahre gekommenen Mannes. Keines alten Mannes, und schon gar nicht das eines gebrechlichen. O nein, wenn er es wollte, dann lagen ihm Frauen, so jung, daß sie leicht seine Töchter oder gar Enkelinnen sein könnten, noch immer zu Füßen. Und dazu brauchten sie nicht einmal zu wissen, wer und was er tatsächlich war.
Wieder lächelte Vautier freudlos.
Er hatte so vieles erreicht im Leben. Reichtümer gesammelt.
Wenn das gleißende Licht eines Blitzes Nacht und Sturm vertrieb, als hätte es beides nie gegeben, dann reichte Giordan Vautiers Blick von La Defense, dem modern-architektonischen Auswuchs im Westen der Stadt, bis tief hinein ins Herz von Paris: über den Are de Triomphe, entlang der Champs-Elysees bis hin zum Louvre. Und einiges von dem, was er auf dieser Strecke sah, nannte er sein eigen. Wie auch den Boden, auf dem er stand - sowie die mehr als dreißig darunterliegenden Etagen des Büroturmes aus Glas, Stahl und Beton, in dem Unternehmen aus aller Welt ansässig waren. Und viele von ihnen waren ihm in einer Weise verbunden, die sich im schlichten Mietverhältnis lange nicht erschöpfte.
Giordan Vautier durfte sich vielleicht zu den wohlhabendsten Männern seines Landes zählen. Ganz sicher aber zu den einflußreichsten dieser Stadt. Wenn er von Paris als »seiner Stadt« sprach, dann ging diese Bezeichnung weit über bloße Heimatliebe hinaus.
Er besaß alles, was er wollte.
Und doch hatte er das Wertvollste verloren.
In einer Nacht wie dieser.
Donner ließ Paris erzittern, daß Giordan Vautier meinte, der Boden unter ihm würde wanken. Aber der Eindruck mochte auch von seinen Erinnerungen herrühren, die nach all den Jahren noch erschütternd waren.
Nächte wie diese waren Giordan Vautier zuwider. Seit damals. Aber er hoffte, daß sich irgendwann in einer solchen Nacht sein sehnlichster Wunsch erfüllen würde.
Denn eine Nacht wie diese war zum Sterben geschaffen.
Als grandiose Kulisse für den Tod eines Mannes, den er einmal für einen Freund gehalten hatte und den er heute haßte wie nichts und niemanden sonst auf dieser Welt!
Ausgenommen vielleicht Nächte wie diese.
*
Das Gewitter war mit Hector Landers nach Paris gekommen, als hinge es ihm an wie ein monströser Schatten. Ein Schatten, der seinen eigenen ersetzte. Denn tatsächlich warf er keinen, als ginge alles Licht durch ihn hindurch. Ganz so, als gäbe es Hector Landers nicht. Und bislang war es kaum anders.
Hector Landers war nur
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