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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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einer Ecke der Küche
oder an der Wand des Hauses im Hof und lief den Mägden nach, um ihnen
mit seinen kleinen Händen zu helfen, wenn sie Holz in ihren Schürzen
schichteten, Wasser schöpften oder Gemüse aus der Erde des Gartens
zogen. Er schlich sich in die Ställe, und, auf die Zehenspitzen
gereckt, reichte er heimlich kleine Heubündel den Pferden in die
Krippen, versuchte Eimer zu schleppen und große Besen oder Mistgabeln
zu bewegen. Frühzeitig verrichtete er Aufträge, die die Frauen in der
Küche ihm gaben, geschickt und schnell und mit ungewöhnlichem Eifer.
Seine Wangen waren dann glühend gerötet, seine Augen glänzten, seine
kleine Brust atmete keuchend, in solcher Eile und Erregung hatte er die
kleinen Aufgaben erfüllt. War er fertig und gelobt worden, schlich er
sich abseits, um allein zu sein, hielt einen Stein, ein Stück Holz oder
eine Krume Erde in seinen heißen, zitternden Händen und sang leise vor
sich hin. Er hatte eine helle, sanfte, in besonderem Wohllaut klingende
Stimme, der alle, die sie hörten, mit Entzücken lauschten. Doch sang er
fast nur, wenn er allein war. Im Chor mit den andern, im Spiel mit den
Kindern, schwieg er meist. In geheimnisvollem Gegensatz zu dieser
schöntönenden Stimme aber stand sein sonderbares Lachen. Es war
lautlos, erschütterte aber seinen ganzen Körper, es öffnete wohl seinen
sanften Mund, aber kein Ton drang daraus hervor, nur das leise Zischen
des erregten Atems.
    Er sprach nie einen Wunsch aus, nie brauchte er gestraft zu
werden, und so weinte er auch nie. Oft mußte er von dem Herrn oder der
Frau zum Essen gezwungen werden, da er aus Bescheidenheit keine Speisen
nehmen wollte. In der Schule, in die die Kinder zweimal in der Woche
gingen und bei schlechtem Wetter auf dem Wagen hingebracht wurden,
lernte er gut und bewies vor allem ein außergewöhnliches Gedächtnis. Er
war auch da fleißig und gewissenhaft und galt als Musterschüler. Auch
zu Hause, auf dem Hofe, wurde er viel gelobt, doch seine Demut und
seine Bescheidenheit blieben sich unverändert gleich. Die beiden
Brüder, die Söhne des Herrn, umwarben den schönen, allen wohlgefälligen
Freund mit offener, neidloser Liebe, doch er zog sich vor ihnen zurück,
mied ihre Spiele, schwieg bei den Gesprächen, verkroch sich hinter die
Dienstbarkeit eines Knechtes. Abends, vor dem gemeinsamen Schlaf,
zögerte er lange, sich zu entkleiden, sammelte erst die Kleider und
Schuhe der Brüder auf, schlüpfte damit auf den Gang vor die Tür, um sie
zu reinigen, und erst, wenn die anderen schon im Dämmer des ersten
Schlafes lagen, entkleidete auch er sich schnell und schlich ins Bett.
Morgens stand er als erster auf, ungeweckt, eilte auf den Hof, um sich
unter dem Brunnen zu waschen, und war schon angekleidet, wenn die
anderen aufwachten und beschämt und verlegen nach ihren Kleidern
suchten. Er zeigte sehr früh ein eigensinniges Schamgefühl, und sein
einziger Ungehorsam bestand darin, als er sich im Alter von vier Jahren
plötzlich weigerte, mit den anderen Knaben gemeinsam zu baden.
    Da ließ, als Fritz acht Jahre alt war, ein Ereignis
sonderbare, fast erschreckende Untergründe seines so sanften Wesens
erkennen. Es war an einem Frühlingsnachmittag, und der Knabe saß in der
Küche am Herd, half geschickt wie ein Mädchen der Magd beim Schälen von
Kartoffeln für den Abend, als plötzlich, mit starkem, ungestümem
Schritt, die Hand der bleichen, voll Entsetzen um sich blickenden
Mutter haltend, ein Mann von riesenhafter Größe eintrat. In seinem
ebenfalls ungewöhnlich großen und völlig farblosen Gesicht versanken
die kleinen, schmalen Augen unter dicken, rostroten Brauen, ein wilder,
roter Bart umwucherte seinen großen aschfarbenen Mund, der breit wie
ein Maul zwischen die mächtigen Kiefern gezogen war. In Büscheln stand
das Haar auf dem riesigen Schädel, der auf einem breiten, kurzen Halse
saß. Beim Sprechen dröhnte seine Stimme, und der Atem seiner starken
Brust bewegte wehend den Bart um seinen Mund.
    Die Mutter hob die freie Hand, die heftig zitterte, deutete
auf Fritz und sagte leise: »Da!«
    Der Mann schoß aus seinen kleinen, in dem trüben Antlitz
versunkenen Augen einen hellen, scharfen Blick auf ihn, streckte seine
mächtige Hand aus und sagte, während seine Stimme dröhnte: »Na, komm
her!«
    Fritz rührte sich nicht. Aus dem sanften, engelgleichen
Gesicht richtete er den demütigen Blick der blauen Augen auf

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