Das Verlorene Labyrinth
jetzt für sich allein.
Sie knipste die Leselampe an und nahm sich den Bericht über die Skelette vor, den Authié ihr gegeben hatte. Außerdem holte sie aus ihrem Koffer ein Dossier über Authié selbst, das zusammengestellt worden war, als er vor zwei Jahren zur Wahl in die Nou- blesso Véritable anstand.
Sie überflog das Dokument, das sie schon gründlich kannte. Er war zweimal wegen sexueller Übergriffe beschuldigt worden, als er Student war. Die beiden Frauen waren mit Geld abgefunden worden, so vermutete sie, da keine von ihnen Anzeige erstattet hatte. Außerdem soll er eine algerische Frau auf einer proislamischen Veranstaltung attackiert haben, doch auch in diesem Fall war keine Anzeige erstattet worden. Es gab Hinweise auf seine Beteiligung an einer antisemitischen Veröffentlichung an der Universität, und seine Exfrau hatte ihn beschuldigt, sie während der Ehe sexuell missbraucht und misshandelt zu haben, doch auch hier waren keine rechtlichen Schritte eingeleitet worden.
Wichtiger waren dagegen seine regelmäßigen und immer großzügigeren Spenden an die Gesellschaft Jesu, die Jesuiten. In den letzten zwei Jahren hatte er sich zudem immer stärker für fundamentalistische Gruppierungen eingesetzt, die sich gegen das Zweite Vatikanische Konzil und die Modernisierung der katholischen Kirche zur Wehr setzten.
Für Marie-Céciles Geschmack passte ein so extremes religiöses Engagement schlecht zu einer Mitgliedschaft bei der Noublesso. Authié hatte geschworen, der Organisation zu dienen, und bislang war er sehr nützlich gewesen. Er hatte die Ausgrabung am Pic de Soularac reibungslos organisiert, und nun schien alles so weit klar, um die Sache ebenso schnell zu Ende zu bringen. Die Warnung, dass in Chartres jemand gegen die Regeln verstoßen hatte, war über einen seiner Kontakte gekommen. Seine Informationen waren stets klar und verlässlich.
Dennoch, Marie- Cécile traute ihm nicht. Er war zu ehrgeizig. Im Widerspruch zu seinen Erfolgen standen seine Fehler in den letzten vierundzwanzig Stunden. Sie glaubte nicht, dass er so dumm war, den Ring oder das Buch selbst an sich genommen zu haben, aber Authié war eigentlich kein Mann, der es zuließ, dass Sachen direkt vor seiner Nase verschwanden.
Sie zögerte, dann griff sie erneut zum Telefon.
»Es gibt Arbeit. Ich interessiere mich für ein Buch, etwa zwanzig Zentimeter hoch, zehn Zentimeter breit, Leder auf Holz, mit Lederbändern zusammengehalten. Außerdem für einen Männerring aus Stein, flach, eine dünne Linie um die Mitte und eine
Gravur auf der Unterseite. Möglicherweise ist auch ein kleiner runder Stein dabei, etwa so groß wie ein Ein-Euro-Stück.« Sie schwieg kurz. »Carcassonne. Eine Wohnung am Quai de Paiche rou und ein Büro auf der Rue de Verdun. Beides gehört Paul Authié .«
Kapitel 33
A lice' Hotel lag direkt gegenüber dem Haupttor der mittelalterlichen Cité in einem hübschen parkähnlichen Garten und war von der Straße aus nicht zu sehen. Man zeigte ihr ein gemütliches Zimmer im ersten Stock. Alice stieß die Fenster auf und ließ die Welt herein. Der Geruch nach gebratenem Fleisch, Knoblauch, Vanille und Zigarrenrauch trieb in den Raum.
Sie packte rasch ihre Sachen aus und duschte, dann rief sie erneut Shelagh an, schon eher aus Gewohnheit als in der Erwartung, sie zu erreichen. Nach wie vor keine Antwort. Sie zuckte die Achseln. Zumindest hatte sie es versucht.
Ausgestattet mit dem Reiseführer, den sie an einer Tankstelle auf der Fahrt von Toulouse hierher gekauft hatte, verließ Alice das Hotel und überquerte die Straße Richtung Cité. Steile Betonstufen führten zu einem kleinen Park hinauf, der auf zwei Seiten von Büschen und hohen immergrünen Pflanzen und Platanen gesäumt wurde. Am hinteren Ende des Parks leuchtete hell ein Karussell aus dem 19. Jahrhundert mit grellen Fin-de- Siècle-Ornamenten, die im Schatten der mittelalterlichen Sandsteinfestung fehl am Platze wirkten. Es hatte einen braun-weiß gestreiften Baldachin, an dessen Rand rundherum ein Fries mit Rittern und Hofdamen und weißen Pferden verlief, und alles an dere war rosa und golden - galoppierende Rosse, wippende Schwäne, Märchenkutschen. Sogar das Fahrkartenhäuschen sah aus wie eine Kirmesbude. Eine Glocke läutete, Kinder kreischten vor Freude, als sich das Karussell in Bewegung setzte und gemächlich sein altes mechanisches Lied leierte.
Hinter dem Karussell sah Alice über eine Friedhofsmauer hinweg die grauen Köpfe und
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