Das Verlorene Labyrinth
Davon will ich nichts hören.«
»Falls ich irgendwie den Eindruck vermittelt habe, dass ...«
Sie legte ihm die Finger auf die Lippen und spürte, wie er bei dem Körperkontakt zusammenzuckte.
»Ich will nichts davon hören.«
Sie nahm die Hand weg und trat von ihm zurück und ging hinaus auf den Balkon. Der Abend hatte alle Farben verschwinden lassen, und die Gebäude und Brücken hoben sich wie Scherenschnitte vor dem dunkler werdenden Himmel ab.
Gleich darauf kam Authié und stellte sich neben sie.
»Ich bezweifle nicht, dass Sie tun, was Sie können, Paul«, sagte sie leise. Er legte seine Hand dicht neben ihre auf das Geländer, und ihre Finger berührten sich ganz kurz. »Selbstverständlich gibt es in Carcassonne noch andere Mitglieder der Noublesso Véritable, die ebenso gute Dienste leisten könnten. Doch eingedenk Ihres bisherigen Engagements ...«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Das Erstarren seiner Schultern und Arme verriet ihr, dass der Warnschuss gesessen hatte. Sie hob die Hand, um ihrem Fahrer zu winken, der unten wartete.
»Ich würde dem Pic de Soularac gern selbst einen Besuch abstatten.«
»Sie übernachten in Carcassonne?«, fragte er rasch.
Sie unterdrückte ein Lächeln. »Ein paar Tage, ja.«
»Ich dachte, Sie wollten die Kammer erst in der Nacht der eigentlichen Zeremonie betreten ... «
»Ich habe meine Meinung geändert«, sagte sie und wandte sich ihm zu. »Jetzt bin ich hier.« Sie lächelte. »Ich habe einiges zu erledigen. Also holen Sie mich bitte um ein Uhr ab, dann bleibt mir noch Zeit, Ihren Bericht zu lesen. Ich wohne im Hôtel de la Cité.«
Marie-Cécile ging wieder hinein, nahm den Umschlag vom Tisch und steckte ihn in ihre Handtasche.
»Bien. A demain, Paul. Schlafen Sie gut.«
Sie spürte seinen Blick im Rücken, als sie die Treppe hinunterging, und konnte seine Selbstbeherrschung nur bewundern. Aber als sie in den Wagen stieg, bekam sie ihre Genugtuung: Oben in Authiés Wohnung krachte laut ein Glas gegen die Wand und zersplitterte.
Dicker Zigarrenrauch waberte durch die Hotellobby. Dinnergäste in Sommeranzügen oder Abendkleidern hatten es sich nach dem Essen in den tiefen Ledersesseln und im diskreten Schatten der hochlehnigen Mahagonibänke bequem gemacht. Marie-Cécile ging langsam die geschwungene Treppe hinauf. Schwarzweißfotos blickten auf sie herab, Erinnerungen an die ruhmreiche Vergangenheit des Hotels zur Jahrhundertwende. In ihrem Zimmer angekommen, kleidete sie sich aus und zog ihren Bademantel an. Wie an jedem Abend warf sie als Letztes einen prüfenden Blick in den Spiegel, leidenschaftslos, als würde sie ein Kunstwerk begutachten. Durchscheinende Haut, hohe Wangenknochen, das typische Profil der de l'Oradores. Marie-Cécile strich sich mit den Fingern über Gesicht und Hals. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Schönheit mit den Jahren verblasste. Wenn alles gut lief, dann würde ihr das gelingen, wovon ihr Großvater geträumt hatte. Sie würde dem Alter ein Schnippchen schlagen. Dem Tod ein Schnippchen schlagen.
Sie runzelte die Stirn. Aber dazu mussten das Buch und der Ring gefunden werden. Mit frischer Entschlossenheit zündete Marie- Cécile sich eine Zigarette an, ging zum Fenster und blickte hinaus über den Garten. Das Gemurmel abendlicher Gespräche trieb von der Terrasse zu ihr hoch. Jenseits der Zinnen auf den Mauern der Cité, jenseits des Flusses, glitzerten die Lichter der Basse Ville wie billige weiße und orangefarbene Weihnachtslichter.
Sie griff zum Telefon und wählte.
»François-Baptiste? C'est moi. Hat in den letzten vierundzwanzig Stunden jemand auf meiner Privatnummer angerufen?« Sie lauschte. »Nein? Hat sie sich bei dir gemeldet?« Sie wartete. »Ich habe gerade von einem Problem hier unten erfahren.« Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Arm, während sie sprach. »Hat sich in der anderen Sache was getan?«
Die Antwort fiel nicht nach ihren Wünschen aus. »Landesweit oder bloß lokal?« Eine Pause. »Halt mich auf dem Laufenden. Ruf an, wenn sich was ergibt, ansonsten bin ich Donnerstagabend zurück.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, dachte Marie-Cécile über den anderen Mann in ihrem Haus nach. Will war ganz nett, stets bemüht, ihr zu gefallen, aber die Beziehung hatte sich ausgelebt. Er war zu fordernd, und seine pubertären Eifersüchteleien gingen ihr langsam auf die Nerven. Ständig stellte er Fragen. Sie konnte im Augenblick keine Komplikationen gebrauchen.
Außerdem brauchten sie das Haus
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