Das Verlorene Labyrinth
Tisch, eine Bank und zwei Stühle standen an der Wand.
Ein schwerer Vorhang trennte den vorderen Teil des Raumes vom hinteren, wo Esclarmonde die Menschen empfing, die bei ihr Rat und Hilfe suchten. Da sie gerade keine Kunden hatte, war der Vorhang zurückgebunden. Auf langen Regalen standen Reihen von Tongefäßen, und Kräuter- und Trockenblumensträuße hingen von der Decke. Auf dem Tisch standen eine Lampe und ein Mörser mit Stößel, genau wie Alaïs einen hatte. Das war ein Hochzeitsgeschenk von Esclarmonde gewesen.
Über dem Behandlungsbereich war eine kleine Plattform, wo Esclarmonde und Sajhë schliefen und die über eine Leiter erreichbar war. Sajhë war gerade dort oben, und als er sah, wer gekommen war, stieß er einen Freudenschrei aus, rutschte die Leiter herunter und schlang Alaïs die Arme um die Taille. Sogleich erzählte er, was er alles erlebt hatte, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
Sajhë konnte gut erzählen, anschaulich und lebendig, und seine bernsteinfarbenen Augen blitzten vor Begeisterung, während er sprach.
» Manhac, du musst etwas für mich erledigen«, sagte Esclarmonde, nachdem sie ihn eine Weile hatte gewähren lassen. »Dame Alaïs wird dich bestimmt entschuldigen.« Sajhë wollte schon widersprechen, doch der Ausdruck im Gesicht seiner Großmutter bremste ihn. »Es wird nicht lange dauern.«
Alaïs zerzauste ihm das Haar. »Du bist ein guter Beobachter, Sajhë , und ein guter Erzähler. Vielleicht wirst du mal Dichter, wenn du erwachsen bist?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will chevalier werden. Ich will kämpfen.«
» Sajhë «, sagte Esclarmonde streng. »Jetzt tu, was ich dir sage.« Sie nannte ihm die Namen einiger Leute, denen er die Nachricht überbringen sollte, dass zwei parfaits aus Albi in vier Tagen in dem Wäldchen östlich von Sant-Miquel sein würden. »Hast du dir alles gut gemerkt?« Er nickte. »Schön.« Sie lächelte, küsste ihn auf den Kopf und legte dann den Finger an die Lippen. »Und vergiss nicht: Nur die Leute, deren Namen ich dir genannt habe. Nun lauf. Je früher du dich auf den Weg machst, desto schneller bist du wieder zurück und kannst Dame Alaïs noch ein paar von deinen Geschichten erzählen.«
»Habt Ihr keine Sorge, dass er sich verplappern könnte?«, fragte Alaïs , als Esclarmonde die Tür hinter ihm schloss.
» Sajhë ist ein kluger Junge. Er wird sich an meine Anweisung halten und nur mit den Leuten sprechen, für die die Nachricht bestimmt ist.«
Sie lehnte sich aus dem Fenster und zog die Fensterläden zu. »Weiß jemand, dass Ihr hier seid?«
»Nur François. Er war es auch, der mir gesagt hat, dass Ihr zurück seid.«
Ein seltsamer Ausdruck erschien in Esclarmondes Augen, aber sie sagte nichts weiter dazu. »Dann sollten wir's dabei belassen, è.« Sie setzte sich an den Tisch und bedeutete Alaïs, ebenfalls Platz zu nehmen.
»Nun, Alaïs. War Eure Reise nach Besièrs erfolgreich?«
Alaïs wurde rot. »Ihr habt davon gehört?«
»Ganz Carcassona weiß davon. Die Leute haben über kaum etwas anderes geredet.« Ihr Gesicht wurde ernst. »Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich es erfuhr, weil man Euch doch erst kurz zuvor überfallen hatte.«
»Auch das wisst Ihr bereits? Da ich nichts von Euch hörte, dachte ich, Ihr wärt vielleicht nicht in der Stadt.«
»Keineswegs. Ich war im Chateau, gleich an dem Tag, als man Euch fand, doch François wollte mich nicht hereinlassen. Auf Anordnung Eurer Schwester durfte niemand ohne ihre Erlaubnis zu Euch.«
»Das hat er mir gar nicht erzählt«, sagte sie, verwundert über die Nachlässigkeit. »Und Oriane hat auch nichts gesagt, obwohl mich das weniger erstaunt.«
»Wie das?«
»Sie hat mich die ganze Zeit beobachtet, aber weniger aus Zuneigung als vielmehr mit irgendeinem Hintergedanken, so kam es mir jedenfalls vor.« Alaïs schwieg kurz. »Verzeiht mir, dass ich Euch nicht in mein Vorhaben eingeweiht habe, Esclarmonde, aber die Zeit zwischen Beschluss und Ausführung des Plans war einfach zu kurz.«
Esclarmonde winkte ab. »Lasst mich Euch erzählen, was hier geschehen ist, während Ihr unt erwegs wart. Wenige Tage nachdem Ihr das Chateau verlassen hattet, kam ein Mann und fragte nach Raoul. «
»Raoul?«
»Der Bursche, der Euch im Ob stgarten gefunden hat.« Esclar monde lächelte gequält. »Seit dem Überfall auf Euch hat er eine gewisse Berühmtheit erlangt, weil er sich als der große Held dargestellt hat. Wenn man ihn reden hörte, hätte man meinen
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