Das Verlorene Labyrinth
Oriane den Arm ihrer Schwester. »Das reicht jetzt«, sagte sie und grub ihre scharfen Fingernägel in Alaïs' Haut. »Du hast gesagt, du bist hier fertig, also gehen wir.«
Ehe sie sich versah, war Alaïs schon draußen auf der Straße. Die Soldaten waren so dicht hinter ihr, dass sie ihren Atem im Nacken spürte. Eine flüchtige Erinnerung an Biergeruch, eine schwielige Hand auf ihrem Mund.
»Schneller«, sagte Oriane und stieß sie in den Rücken.
Um Esclarmondes willen hatte Alaïs keine andere Wahl, als Oriane zu gehorchen. An der Straßenecke konnte sie noch einen letzten Blick über die Schulter werfen. Esclarmonde stand in der Tür und sah ihnen nach. Rasch hob sie einen Finger an die Lippen. Eine deutliche Warnung, nichts zu sagen.
Kapitel 36
I m donjon rieb Pelletier sich die Augen und reckte die Arme, um die Steifheit aus den Gliedern zu vertreiben.
Seit Stunden wurden Boten vom Chateau Comtal entsandt, um all jenen von den sechzig Vasallen Trencavels einen Brief zu überbringen, die nicht schon auf dem Weg nach Carcassonne waren. Die stärksten Vasallen waren im Grunde unabhängig, daher hatte Pelletier Raymond-Roger nahe gelegt, zu überzeugen und zu bitten, statt zu befehlen. In jedem Brief war die Bedrohung in klaren Worten dargelegt. Die Franzosen sammelten sich an ihren Grenzen und bereiteten eine Invasion vor, wie sie der Midi noch nicht erlebt hatte. Die Garnison in Carcassonne musste verstärkt werden. Die Vasallen sollten ihre Treuepflicht erfüllen und mit allen kampfstarken Männern kommen, die sie aufbieten konnten.
»A la perfin«, sagte Trencavel und weichte das Wachs über der Kerzenflamme auf, ehe er sein Siegel auf den letzten Brief drückte. Endlich.
Pelletier kehrte an die Seite des Vicomte zurück und nickte Jehan Congost zu. Normalerweise achtete er kaum auf Orianes Gemahl, doch heute musste er zugeben, dass Congost und seine Schreiber unermüdlich und tüchtig gearbeitet hatten. Jetzt, da der Diener das abschließende Schreiben zum letzten wartenden Boten brachte, gab Pelletier auch den escrivains die Erlaubnis zu gehen. Nachdem Congost sich erhoben hatte, standen sie einer nach dem anderen auf, ließen die steifen Fingerknöchel knacken, rieben sich die müden Augen und sammelten ihre Pergamentrollen, Federn und Tintenfässchen ein. Pelletier wartete, bis er und Vicomte Trencavel allein waren.
»Ihr solltet Euch ausruhen, Messire«, sagte er. »Ihr müsst mit Euren Kräften haushalten.«
Trencavel lachte. »Forga e vertu«, sagte er, die gleichen Worte, die er in Beziers gesprochen hatte. Kraft und Mut. »Seid unbesorgt, Bertrand, es geht mir gut. So gut wie nie.« Der Vicomte legte eine Hand auf Pelletiers Schulter. »Aber Ihr, mein alter Freund, seht aus, als könntet Ihr ein wenig Ruhe gebrauchen.« »Ich gestehe, der Gedanke ist verlockend, Messire«, erwiderte er. Die vielen unruhigen Nächte waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
»Heute Nacht werden wir wieder in unseren eigenen Betten schlafen, Bertrand, obwohl ich fürchte, dass es bis dahin noch ein Weilchen hin ist, zumindest für uns.« Sein schönes Gesicht wurde ernst. »Ich muss mich so bald wie möglich mit den Consuln treffen, mit allen, die sich so kurzfristig zusammentrommeln lassen.«
Pelletier nickte. »Was ist Euer Ansinnen?«
»Selbst wenn alle unsere Vasallen meinem Aufruf folgen und ein ansehnliches Kontingent Soldaten mitbringen, brauchen wir mehr Männer.« Er breitete die Hände aus.
»Ihr wünscht, dass die Consuln eine Kriegskasse einrichten?« »Wir brauchen genug, um uns die Dienste von disziplinierten, schlachterprobten Söldnern zu kaufen, Aragonesen oder Katalanen, je näher, desto besser.«
»Habt Ihr schon eine Erhöhung der Steuern erwogen? Vielleicht auf Salz? Oder Weizen?«
»Dafür ist es noch zu früh. Vorläufig möchte ich die notwendigen Mittel lieber durch freiwillige Gaben als durch Zwang aufbringen.« Er hielt inne. »Falls das scheitert, dann werde ich strengere Maßnahmen in Erwägung ziehen. Wie stehen die Arbeiten an der Festung?«
»Sämtliche Steinmetze und Zimmerleute innerhalb der Ciutat, von Sant-Vicens und Sant-Miquel und aus den Dörfern im Norden sind herbeigerufen worden. Es wurde schon damit begonnen, das Chorgestühl in der Kathedrale und im Refektorium der Priester abzubauen.«
Trencavel grinste. »Das wird Berenger de Rochefort nicht gefallen !«
»Der Bischof wird es hinnehmen müssen«, knurrte Pelletier. »Wir brauchen alles Holz,
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