Das Verlorene Labyrinth
können, er habe sich ganz allein sämtlichen Heerscharen Sala dins entgegengestellt, um Euer Leben zu retten.«
»Ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn«, sagte Alaïs kopfschüttelnd. »Meint Ihr, er hat irgendwas gesehen?« Esclarmonde zuckte die Achseln. »Das bezweifle ich. Ihr wurdet ja schon über einen Tag vermisst, bevor Alarm geschlagen wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Raoul den Überfall gesehen hat, sonst hätte er sich schon früher gemeldet. Wie dem auch sei, der Fremde hat Raoul angesprochen und ist mit ihm in die taberna >Sant Joan dels Evangelis< gegangen. Er hat ihm reichlich Bier spendiert, ihm geschmeichelt. Raoul ist bei all seiner Großspurigkeit und Prahlerei doch bloß ein Junge und ein Dummkopf noch dazu. Zu guter Letzt war er nämlich, als der Wirt schließlich zusperren wollte, nicht mehr in der Lage, ein Bein vors andere zu setzen. Sein Trinkkumpan versprach, ihn wohlbehalten nach Hause zu bringen.«
»Ja und?«
»Raoul ist nie zu Hause angekommen. Und er wurde seitdem auch nicht mehr gesehen.«
»Und der Mann?«
»Verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. In der Schenke hat er behauptet, er käme aus Alzonne. Während Ihr in Be siers wart, hab ich mich dort umgehört. Da kannte ihn kein Mensch.«
»Dann werden wir also von dort nichts Näheres erfahren.« Esclarmonde schüttelte den Kopf. »Wie kam es, dass Ihr so spät in der Nacht im Hof wart?«, fragte sie. Ihre Stimme war ruhig und fest, doch die ernste Aufmerksamkeit hinter ihren Worten war nicht zu überhören.
Alaïs erzählte es ihr. Als sie geendet hatte, schwieg Esclarmonde einen Augenblick.
»Zwei Fragen drängen sich auf«, sagte sie schließlich. »Erstens, wer wusste, dass Euer Vater nach Euch geschickt hatte, denn ich glaube nicht, dass Eure Angreifer zufällig dort waren. Zweitens, angenommen, sie haben nicht auf eigene Faust gehandelt, wer waren dann ihre Anstifter?«
»Niemand wusste davon. Ich hatte mit niemandem darüber gesprochen, wie mir mein Vater geraten hat.«
»François wusste Bescheid. Er hat Euch geholt.«
»Ja«, räumte Alaïs ein, »aber ich kann mir nicht vorstellen, dass François ...«
»Vielleicht hat jemand von der Dienerschaft gesehen, wie er zu Eurem Gemach ging, und gelauscht.« Sie betrachtete Alaïs mit ihren offenen und intelligenten Augen. »Warum seid Ihr Eurem Vater nach Besièrs gefolgt?«
Der jähe, unerwartete Themenwechsel überrumpelte Alaïs.
»Ich war ...«, begann sie, ernst, aber vorsichtig. Sie war zu Esclarmonde gekommen, um Antworten auf ihre Fragen zu finden. Stattdessen war nun sie es, die Antworten gab. »Er hatte mir ein Zeichen mitgegeben«, sagte sie, ohne Esclarmondes Gesicht aus den Augen zu lassen, »ein Zeichen, mit einem eingravierten Labyrinth. Das haben die Diebe mir geraubt. Und nach dem, was mein Vater mir erzählt hatte, fürchtete ich, mit jedem Tag, der verstrich, ohne dass mein Vater über das, was geschehen war, Bescheid wusste, könnte eine größere Gefahr für ... « Sie brach ab, wusste nicht, wie sie fortfahren sollte.
Anstatt beunruhigt dreinzublicken, lächelte Esclarmonde. »Habt Ihr ihm auch von dem Holzbrett erzählt, Alaïs?«, fragte sie leise. »An dem Abend vor seinem Aufbruch, ja, vor ... vor dem Überfall. Er war sehr aufgewühlt, erst recht, als ich zugeben musste, dass ich nicht wusste, woher ¿s stammte.« Sie stockte. »Aber woher wisst Ihr, dass ich ... «
»Sajhë hat es gesehen, als er Euch beim Käsekauf auf dem Markt half, und er hat mir davon erzählt. Wie Ihr selbst schon bemerkt habt, hat er eine gute Beobachtungsgabe.«
»Seltsam, dass einem Elfjährigen so etwas auffällt.«
»Er wusste, welche Bedeutung es für mich hat«, erwiderte Esclarmonde.
»Wie der merel.«
Ihre Blicke trafen sich.
Esclarmonde zögerte. »Nein«, sagte sie und wählte ihre Worte mit Bedacht. »Nein, nicht ganz.«
»Ihr habt es?«, fragte Alaïs langsam.
Esclarmonde nickte.
»Aber warum habt Ihr nicht einfach darum gebeten? Ich hätte es Euch doch ohne weiteres gegeben.«
»An dem Abend, als Ihr verschwunden seid, war Sajhë bei Euch, um Euch darum zu bitten. Er hat gewartet und gewartet, und schließlich, als Ihr nicht in Euer Gemach zurückkehrtet, hat er es mitgenommen. Unter den gegebenen Umständen hat er gut daran getan.«
»Und Ihr habt es hier?«
Esclarmonde nickte.
Alaïs spürte ein Triumphgefühl in sich aufsteigen, stolz darauf, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Ihre Freundin war die dritte
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