Das Verlorene Labyrinth
schüttelte den Kopf. »Euer Vater. Er bittet Euch, zu ihm ans östliche Wachhaus zu kommen.«
»Jetzt? Aber es ist doch gewiss schon nach zwölf?«
»Es hat noch nicht Mitternacht geschlagen, Herrin.«
»Warum hat er dich geschickt und nicht François?«
»Das weiß ich nicht, Herrin.«
Alaïs warf sich ihren Mantel um die Schultern, wies Rixende an, in ihrem Gemach Wache zu halten, und hastete nach unten. Der Donner grollte noch über den Bergen, als sie über den Hof zu ihrem Vater lief.
»Wo gehen wir hin?«, rief sie gegen den Wind, als er sich wortlos umwandte und durch das Osttor ging.
»Nach Sant-Nasari«, sagte er. »Wo das Buch der Wörter versteckt ist.«
Oriane lag ausgestreckt wie eine Katze auf ihrem Bett und lauschte auf den Wind. Guirande hatte gute Arbeit geleistet; das Zimmer war wieder aufgeräumt, und ihrer Beschreibung nach musste die Verwüstung erheblich gewesen sein. Oriane wusste nicht, was ihren Gemahl zu so einem Wutanfall getrieben hatte. Und es war ihr auch völlig gleichgültig.
Alle Männer - Höflinge, Schreiber, chevaliers, Priester - waren im Grunde gleich. Trotz all ihrem hochtrabenden Gerede von Ehre konnte Oriane ihren Willen brechen wie einen Zweig im Winter. Der erste Verrat war der schwerste. Danach musste sie immer wieder staunen, wie leicht Geheimnisse über treulose Lippen kamen, wie sehr ihre Taten alles widerlegten, was ihnen doch angeblich so lieb und teuer war.
Sie hatte mehr erfahren, als sie erhofft hatte. Das Widersinnige dabei war, dass Guilhem gar nicht die Bedeutung dessen ermessen konnte, was er ihr heute Abend erzählt hatte. Sie hatte von Anfang an den Verdacht gehabt, dass Alaïs ihrem Vater nach Be- ziers gefolgt war. Jetzt wusste sie es. Sie wusste außerdem ein wenig von dem, was am Vorabend seiner Abreise zwischen den beiden vorgegangen war.
Der einzige Grund, warum Oriane sich um Alaïs ' Pflege gekümmert hatte, war die Hoffnung gewesen, ihre Schwester dazu bringen zu können, das Vertrauen ihres Vaters zu verraten, doch das war gescheitert. Nur eines war auffällig gewesen, nämlich Alaïs ' Kummer darüber, dass ein Holzbrett aus ihrem Zimmer verschwunden war. Sie hatte es im Schlaf gemurmelt, als sie sich unruhig hin und her wälzte. Bis jetzt war es ihr trotz aller Bemühungen nicht gelungen, das Brett wiederzufinden.
Oriane reckte die Arme über den Kopf. Nicht in ihren kühnsten Träumen hätte sie es für möglich gehalten, dass ihr Vater etwas so Machtvolles und Einflussreiches besaß, dass manche ein Königreich dafür hergeben würden. Sie musste nur noch Geduld haben.
Nach dem, was Guilhem ihr heute erzählt hatte, konnte sie sich denken, dass das Holzbrett nicht so wichtig war, wie sie angenommen hatte. Wenn sie nur mehr Zeit gehabt hätten, dann hätte sie ihm auch noch den Namen des Mannes entlockt, den ihr Vater in Béziers getroffen hatte. Falls er den Namen wusste. Oriane setzte sich auf. François würde es wiss en. Sie klatschte in die Hände.
»Bring das hier zu François«, sagte sie zu Guirande, die sogleich ins Zimmer getreten war. »Aber pass auf, dass dich niemand sieht.«
Kapitel 38
D ie Nacht hatte sich über das Lager der Kreuzfahrer gesenkt. Guy d'Evreux wischte sich die fettigen Hände an dem Tuch ab, das ihm ein ängstlicher Diener hinhielt. Er leerte seinen Becher und spähte zu dem Abt von Citeaux am Kopfende der Tafel hinüber, um zu sehen, ob er schon so weit war aufzustehen.
Er war es nicht.
Blasiert und selbstgefällig hatte sich der Abt in seinen weißen Roben zwischen dem Herzog von Burgund und dem Comte von Nevers platziert. Das ständige Gerangel der beiden samt ihren Anhängern um die besten Plätze hatte schon begonnen, noch ehe das Kreuzheer Lyon verließ.
Ihr eisiger Gesichtsausdruck verriet, das Arnald-Amalric sie wieder einmal peinigte. Häresie, Höllenfeuer, die Gefahren der Landessprache, alles Themen, mit denen er ein Publikum stundenlang quälen konnte.
Evreux hatte vor keinem von ihnen Achtung. Er hielt ihre Ambitionen für jämmerlich - ein paar Goldmünzen, Wein und Huren, ein paar Schlachten und dann ruhmbedeckt zurück nach Hause, nachdem sie ihre vierzig Tage gedient hatten. Lediglich de Montfort, der etwas weiter entfernt an der Tafel saß, schien zuzuhören. In seinen Augen brannte ein unangenehmer Eifer, dem nur der Fanatismus des Abtes gleichkam.
Evreux kannte de Montfort nur dem Namen nach, obwohl sie praktisch Nachbarn waren. Evreux hatte nördlich von Chartres
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