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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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völlig ausdruckslos. Er streckte eine Hand aus, Innenfläche nach oben, und wartete, bis einer seiner Soldaten ihm den Dolch wiedergab. Er wischte die Klinge an einem Zipfel der Tunika des Toten ab und schob sie zurück in die Scheide.
    »Lasst ihn verschwinden«, sagte Evreux und stieß mit der Stiefelspitze gegen die Leiche. »Ich will, dass dieser Jude gefunden wird. Ich will wissen, ob er noch unterwegs ist oder schon in Car- cassona. Habt ihr eine Beschreibung von ihm?«
    Der Soldat nickte.
    »Gut. Stört mich heute nicht mehr, es sei denn, es gibt Neuigkeiten von dort.«

Kapitel 39
Carcassonne
     
    Mittwoch, 6. Juli 2005
     
    A lice schwamm zwanzig Bahnen im Swimmingpool des Hotels und frühstückte dann auf der Terrasse, wobei sie zusah, wie die Sonnenstrahlen über die Baumwipfel schlichen. Um halb zehn stand sie in der Schlange vor dem Chateau Comtal und wartete auf den Einlass. Sie bezahlte und bekam eine Broschüre über die Geschichte des Schlosses.
    An zwei Stellen der Brustwehr waren hölzerne Aussichtsplattformen errichtet worden, rechts vom Tor und rund um den hufeisenförmigen Tour des Casernes herum, wie der Ausguck an einem Schiffsmast.
    Als sie durch die eindrucksvolle, aus Metall und Holz gefertigte Doppeltür des östlichen Wachhauses trat, senkte sich eine seltsame Ruhe über sie.
    Der Cour d'Honneur lag größtenteils im Schatten. Schon jetzt waren viele Besucher wie sie hier, schlenderten umher, lasen und sahen sich um. Zur Zeit der Trencavels hatte eine Ulme in der Mitte des Hofes gestanden, unter der drei Generationen von Vicomtes Recht gesprochen hatten. Die Ulme war nicht mehr da, ersetzt durch zwei vollkommen harmonische Platanen, die nun ihre Schatten auf die Westmauer des Hofes warfen, als die Sonne über die zinnenbewehrte Mauer gegenüber lugte.
    Die hinterste nördliche Ecke des Cour d'Honneur lag bereits in der prallen Sonne. Ein paar Tauben nisteten über den leeren Türeingängen und in Mauer spalten und auf den verlassenen Bögen des Tour du Major und des Tour du Degré. Ein Erinnerungsblitz - das Gefühl einer groben Holzleiter, die Sprossen mit Stricken festgebunden, wie ein Lausbub von Stockwerk zu Stockwerk klettern.
    Alice blickte auf, versuchte im Kopf das, was sie vor Augen hatte, von der körperlichen Empfindung in ihren Fingerspitzen zu trennen.
    Es gab wenig zu sehen.
    Und dann überkam sie ein fürchterliches Gefühl des Verlustes. Trauer legte sich wie eine Faust um ihr Herz.
    Hier hat er gelegen. Hier hat sie um ihn geweint.
    Alice blickte nach unten. Zwei erhabene Bronzelinien auf der Erde markierten die Stelle, wo einmal ein Gebäude gewesen war, mit einer in den Boden eingelassenen Schrifttafel. Sie ging in die Hocke und las, dass sich hier einmal die Kapelle des Chateau Comtal befunden hatte, die der Sainte-Marie geweiht war. Santa-Maria.
    Nichts war geblieben.
    Alice schüttelte den Kopf, aufgewühlt von der Macht ihrer Ge fü hle. Die Welt, die vor achthundert Jahren bestanden hatte, unter diesem hohen Himmel des Südens, existierte noch immer, nur unter der Oberfläche. Sie hatte das starke Gefühl, dass jemand dicht hinter ihr stand, als ob sich die Grenze zwischen ihrer Gegenwart und der Vergangenheit eines anderen Menschen auflöste.
    Sie schloss die Augen, sperrte die modernen Farben und Formen und Klänge aus, stellte sich die Menschen vor, die hier gelebt hatten, gab ihren Stimmen Raum, zu ihr zu sprechen.
    Hier hatte man einmal gut leben können. Flackernde rote Kerzen auf einem Altar, blühender Weißdorn, Hände bei der Trauung vereint.
    Die Stimmen anderer Besucher holten Alice zurück in die Gegenwart, und die Vergangenheit verklang, als sie ihren Rundgang fortsetzte. Jetzt war sie im Innern des Châteaus, sie sah die hölzernen Galerien entlang der Brustwehre, die nach hinten hin offen waren. In den Mauern waren wieder diese kleinen, tiefen, viereckigen Löcher, die ihr schon am Vorabend bei ihrem Gang über die Lices aufgefallen waren. Der Broschüre entnahm sie, dass in ihnen die Balken gesteckt hatten, von denen die oberen Stockwerke getragen worden waren.
    Alice schaute auf die Uhr und stellte erfreut fest, dass sie noch Zeit hatte, sich das Museum anzusehen, ehe sie zu ihrem Termin musste. Die Räume aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die einzigen, die noch von den ursprünglichen Bauten erhalten waren, beherbergten eine Sammlung von steinernen Altären, Säulen, Kragsteinen, Brunnen und Gräbern aus römischer Zeit bis ins 15.

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