Das Verlorene Labyrinth
hinreichende Antwort geben konnte, hatte sie sich das Beten selbst wieder abgewöhnt. Aber sie erinnerte sich noch an das Gefühl von Sinnhaftigkeit, das die Religion vermitteln kann. Die Gewissheit, die Aussicht auf Erlösung, die irgendwo jenseits der Wolken liegt, das war ihr nie ganz abhanden gekommen. Wenn sie Zeit hatte, hielt sie es mit Philip Larkin und ging in eine Kirche. Sie fühlte sich in Kirchen geborgen. Sie weckten in ihr ein Gefühl von Geschichte, von einer gemeinsamen Vergangenheit, die durch die Architektur, die Fenster, das Chorgestühl zu ihr sprach.
Aber hier nicht.
In diesen katholischen Kathedralen des Midi empfand sie nicht Frieden, sondern Bedrohung. Der Geruch von Bosheit und Hass schien aus diesen Steinen zu sickern. Sie blickte hinauf zu den scheußlichen Fratzen, die auf sie niedergrinsten, sah ihre entstellten Mäuler, verzerrt und höhnisch.
Rasch stand Alice auf und verließ den Platz. Immer wieder blickte sie sich um, sagte sich, dass sie sich das bloß einbildete, und doch wurde sie das Gefühl nicht los, dass jemand ihr folgte.
Das ist reine Einbildung.
Auch als sie die Cité verließ und die Rue Trivalle hinab zur Unterstadt ging, blieb sie nervös. Sosehr sie auch versuchte, sich zu beruhigen, sie war sicher, dass sie verfolgt wurde.
Die Kanzlei von Daniel Delagarde lag in der Rue George Brassens. Das Messingschild an der Wand glänzte im Sonnenlicht. Alice war etwas zu früh für ihren Termin und nahm sich daher die Zeit, die Namen zu studieren, bevor sie hineinging. Karen Fle u ry war eine von nur zwei Frauen in der Kanzlei.
Alice stieg die grauen Steinstufen hoch, öffnete die Glastür und betrat einen gefliesten Empfangsbereich. Hinter einem auf Hochglanz polierten Mahagonitisch saß eine Sekretärin, bei der Alice sich anmeldete und die sie ins Wartezimmer schickte. Die Stille war bedrückend. Ein etwas bäurisch aussehender Mann Ende fünfzig nickte ihr zu, als sie eintrat. Ausgaben von Paris Match, Immo Média und ein paar alte Vogwe-Exemplare lagen ordentlich gestapelt auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes. Auf einem weißen Kaminsims stand eine vergoldete Uhr und im Kamin selbst eine eckige Glasvase mit Sonnenblumen.
Alice setzte sich in einen schwarzen Ledersessel direkt am Fenster und tat so, als würde sie lesen.
»Ms. Tanner? Karen Fleury. Schön, dass Sie da sind.«
Alice stand auf und fand die Frau auf Anhieb sympathisch. Ms. Fleury war Mitte dreißig, trug einen strengen schwarzen Hosenanzug mit weißer Bluse und strahlte Kompetenz aus. Ihre gepflegten blonden Haare waren kurz geschnitten. Um den Hals hatte sie ein Goldkettchen mit Kreuz.
»Meine Beerdigungsgarderobe«, sagte sie, als sie Alice' Blick bemerkte. »Sehr heiß bei diesem Wetter.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Sie hielt für Alice die Tür auf. »Sollen wir?«
»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, fragte Alice, als sie durch ein zunehmend unelegant wirkendes Wirrwarr von Gängen marschierten.
»Wir sind vor zwei Jahren hierher gezogen. Mein Mann ist Franzose. Hier in der Gegend lassen sich jede Menge Engländer nieder, die alle juristische Beratung brauchen. Ich kann mich also über mangelnde Arbeit nicht beklagen.«
Karen führte sie in ein kleines Büro im rückwärtigen Teil des Gebäudes.
»Wunderbar, dass Sie persönlich herkommen konnten«, sagte sie und forderte Alice mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. »Ich hatte gedacht, wir müssten das meiste telefonisch regeln.«
»Das hat sich so ergeben. Kurz nachdem ich Ihren Brief bekommen hatte, hat mich eine Freundin, die in der Nähe von Foix arbeitet, eingeladen, sie zu besuchen. Die Gelegenheit wollte ich mir nicht entgehen lassen.« Sie stockte. »Und außerdem, angesichts der Größe und Art des Erbes hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich wenigstens herkommen müsste.«
Karen lächelte. »Nun, aus meiner Sicht vereinfacht es die Dinge und beschleunigt das Ganze auch.« Sie nahm einen braunen Umschlag. »Nach dem, was Sie mir am Telefon erzählt haben, wissen Sie anscheinend nicht viel über Ihre Tante.«
Alice verzog das Gesicht. »Ehrlich gesagt, ich hatte noch nie von ihr gehört. Ich hatte keine Ahnung, dass Dad überhaupt lebende Verwandte hatte, ganz zu schweigen eine Halbschwester. Ich hab immer gedacht, meine Eltern wären beide Einzelkinder gewesen. Bei irgendwelchen Weihnachts- oder Geburtstagsfeiern waren jedenfalls nie Tanten oder Onkel dabei.«
Karen warf einen Blick auf ihre
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