Das Verlorene Labyrinth
Notizen. »Sie haben Ihre Eltern vor einigen Jahren verloren.«
»Sie starben bei einem Autounfall, als ich siebzehn war«, sagte Alice. »Im Mai 1993. Kurz vor meiner Abschlussprüfung.«
»Wie furchtbar.«
Alice nickte. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
»Sie haben keine Geschwister?«
»Nein. Meine Eltern haben zu spät mit Kinderkriegen angefangen. Sie waren beide schon relativ alt, als ich zur Welt kam. Über vierzig.«
Karen nickte. »Nun, unter den gegebenen Umständen, denke ich, ist es am besten, wenn ich kurz alles zusammenfasse, was ich hier in den Unterlagen über den Besitz Ihrer Tante und ihr Testament habe. Wenn wir hier fertig sind, können Sie sich das Haus ja ansehen, wenn Sie möchten. Es ist in Salleles d'Aude, einem kleinen Ort gut eine Autostunde von hier entfernt.«
»Einverstanden.«
»Also, was ich hier habe«, begann Karen und klopfte auf die Akte, »ist ziemlich trockenes Zeug, Namen und Daten und so weiter. Im Haus selbst können Sie sich anhand der privaten Papiere und der persönlichen Sachen bestimmt ein besseres Bild davon machen, was Ihre Tante für ein Mensch war. Schauen Sie sich in Ruhe alles an und entscheiden Sie dann, ob wir das Haus räumen lassen sollen oder ob Sie das lieber selbst erledigen möchten. Wie lange bleiben Sie?«
»Eigentlich bis Sonntag, aber ich überlege, ob ich nicht noch länger bleibe. Ich muss nicht unbedingt schon zurück.«
Karen nickte und überflog dabei ihre Notizen.
»Also, fangen wir an. Grace Alice Tanner war die Halbschwester Ihres Vaters. Sie wurde 1912 in London geboren, als jüngstes und einziges überlebendes Kind von fünfen. Zwei andere Mädchen starben im Säuglingsalter, und die beiden Jungen fielen im Ersten Weltkrieg. Ihre Mutter verstarb« - sie hielt inne und fuhr mit dem Finger über die Seite, bis sie fündig wurde - »1928 nach langer Krankheit, und die Familie brach auseinander. Grace verließ damals das Elternhaus, und ihr Vater zog aus der Gegend weg und heiratete später erneut. Aus dieser Ehe ging nur ein Kind hervor, Ihr Vater, der im Jahr nach der Hochzeit zur Welt kam. Soweit ich das anhand der Unterlagen beurteilen kann, scheint es von da an wenig oder gar keinen Kontakt zwischen Miss Tanner und ihrem Vater - also Ihrem Großvater - gegeben zu haben.«
»Ich wusste das alles nicht, aber halten Sie es für wahrscheinlich, dass mein Vater von der Existenz seiner Halbschwester wusste?«
»Keine Ahnung. Aber ich würde vermuten, dass er es nicht wusste.«
»Aber Grace wusste eindeutig von ihm.«
»Ja, obwohl ich auch nicht weiß, wie und wann sie es herausgefunden hat. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie von Ihnen wusste. 1993, nach dem Tod Ihrer Eltern, hat sie nämlich ihr Testament geändert und Sie als Alleinerbin eingesetzt. Damals lebte sie schon eine ganze Weile in Frankreich.«
Alice runzelte die Stirn. »Wenn sie von mir wusste und auch, was mi t meinen Eltern passiert war, dann verstehe ich nicht, warum sie keinen Kontakt zu mir aufgenommen hat.«
Karen zuckte die Achseln. »Vielleicht hat sie gedacht, es wäre Ihnen nicht recht. Wir wissen ja nicht, was zu dem Bruch in der Familie geführt hat, und womöglich hat sie gedacht, Ihr Vater hätte schlecht von ihr gesprochen und Sie wären ihr gegenüber voreingenommen. Aus Angst vor Zurückweisung — was nicht selten berechtigt ist - melden die Betreffenden sich dann lieber nicht. Ist der Kontakt erst einmal abgebrochen, ist es oft sehr schwierig, den Schaden zu beheben.«
»Sie haben das Testament wohl nicht aufgesetzt?«
Karen lächelte. »Nein, das war weit vor meiner Zeit. Aber ich habe mit dem Kollegen gesprochen, der das gemacht hat. Er ist jetzt im Ruhestand, aber er erinnert sich an Ihre Tante. Sie war sehr sachlich, ohne viel Getue oder Gefühlsduselei. Sie wusste ganz genau, was sie wollte, und zwar, dass alles an Sie gehen soll.«
»Dann wissen Sie auch nicht, wie es gekommen ist, dass sie hier in Frankreich gelebt hat?«
»Leider nein.« Sie hielt kurz inne. »Aus unserer Sicht ist die Sachlage ziemlich klar. Also, wie gesagt, ich halte es für das Beste, wenn Sie sich das Haus einfach ansehen. Vielleicht finden Sie ja so etwas mehr über sie heraus. Und wenn Sie ein paar Tage länger bleiben, können wir uns Ende der Woche noch einmal treffen. Morgen und Freitag bin ich im Gericht, aber wenn es Ihnen recht ist, können wir gerne für Samstagmorgen einen Termin machen.« Sie stand auf und streckte Alice die Hand entgegen. »Geben Sie doch
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