Das Verlorene Labyrinth
wenig zurück und wollte sprechen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, wollten nicht herauskommen. »Vater, ich ...« Verwirrt sah er, wie zerzaust und schmutzig sie war. Über ihren Kopf hinweg schaute er fragend zu François hinüber.
»Ich habe Dame Alaïs in diesem Zustand angetroffen, Messire.« »Und sie hat nicht gesagt, warum ... sie völlig aufgelöst ist?« »Nein, Messire. Nur, dass sie sofort zu Euch wollte.«
»Gut. Lass uns jetzt allein. Ich rufe, wenn ich dich brauche.« Alaïs hörte die Tür zufallen. Dann spürte sie den Druck seines Arms um ihre Schulter. Er bugsierte sie zu einer Bank an einer Seite des Kellers und drückte sie sacht nach unten.
»Komm, Filha«, sagte er mit sanfterer Stimme und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »So kenne ich dich gar nicht. Erzähl mir, was passiert ist.«
Alaïs gewann allmählich die Fassung wieder. Es tat ihr Leid, ihren Vater so ängstlich und besorgt zu sehen. Sie rieb sich mit dem Taschentuch, das er ihr hinhielt, über die nassen Wangen und betupfte sich die geröteten Augen.
»Trink das«, sagte er und schob ihr einen Becher Wein in die Hände, ehe er sich neben sie setzte. Das alte Holz bog sich und knarrte unter seinem Gewicht. »François ist fort. Wir sind unter uns. Du musst jetzt aufhören zu weinen und mir sagen, weshalb du so verstört bist. Hat es etwas mit Guilhem zu tun ? Hat er dir wehgetan? Wenn ja, das schwöre ich dir, werde ich ...«
»Es hat nichts mit Guilhem zu tun, Paire«, sagte Alaïs rasch. »Niemand hat mir was getan ...«
Sie schaute kurz zu ihm hoch, senkte dann wieder den Blick, beschämt, in diesem Zustand vor ihm zu sitzen.
»Was dann?«, drängte er. »Wie soll ich dir helfen, wenn du mir nicht sagst, was geschehen ist?«
Sie schluckte schwer, verstört und voller Schuldgefühle. Sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Pelletier nahm ihre Hände. »Du zitterst ja, Alaïs.« Sie hörte die Sorge und Zuneigung in seiner Stimme, die Anstrengung, die es ihn kostete, seine Angst im Zaum zu halten. »Und sieh dir deine Kleider an«, sagte er und nahm den Saum ihres Gewandes zwischen die Finger. »Nass. Voller Schmutz.«
Alaïs sah ihm an, wie müde er war, wie besorgt. Er war sichtlich bestürzt von ihrem Zusammenbruch, sosehr er auch versuchte, es zu verbergen. Auf seiner Stirn zeigten sich tiefe Furchen. Und wieso war ihr bisher nicht aufgefallen, dass sein Haar an den Schläfen so grau geworden war?
»Ich habe noch nie erlebt, dass dir die Worte fehlen«, sagte er, um sie zum Reden zu bringen. »Nun erzähl schon, was passiert ist, e.«
Sein Gesichtsausdruck war so voller Liebe und Vertrauen, dass es ihr schier das Herz zerriss. »Ich fürchte, Ihr werdet mir böse sein, Paire. Und das mit Fug und Recht.«
Seine Miene wurde härter, doch er behielt das Lächeln bei. »Ich verspreche, ich werde nicht mit dir schimpfen, Alaïs . Und jetzt sprich.«
»Auch wenn ich Euch erzähle, dass ich am Fluss war?«
Er zögerte kurz, doch seine Stimme blieb ruhig. »Nicht einmal dann.«
Bring es hinter dich.
Alaïs faltete die Hände im Schoß. »Heute Morgen kurz vor Tagesanbruch bin ich zum Fluss hinuntergegangen, zu einer Stelle, an der ich oft Pflanzen sammle.«
»Allein?«
»Ja, allein«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »Ich weiß, ich habe Euch mein Wort gegeben, Paire, und ich bitte um Vergebung für meinen Ungehorsam.«
»Zu Fuß?«
Sie nickte und wartete ab, bis er ihr mit einer Handbewegung bedeutete weiterzureden.
»Ich war eine Weile dort. Ich habe niemanden gesehen. Als ich wieder gehen wollte und gerade meine Sachen zusammenpackte, bemerkte ich etwas, das ich zunächst für ein Kleiderbündel im Wasser hielt, Stoff von bester Güte. Doch es war ...« Alaïs stockte und spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. »Es war eine Leiche. Die Leiche eines Mannes, recht alt. Mit dunklem, lockigem Haar. Zuerst dachte ich, er wäre ertrunken. Ich konnte nicht viel erkennen. Dann sah ich, dass seine Kehle durchgeschnitten war.«
Seine Schultern versteiften sich. »Hast du die Leiche angefasst ?« Alaïs schüttelte den Kopf. »Nein, aber ...« Sie schlug verlegen die Augen nieder. »Es war entsetzlich, ihn zu finden. Ich habe einfach den Kopf verloren und bin weggerannt, habe alles dagelassen. Ich wollte nur noch zu Euch, um Euch alles zu erzählen.«
Wieder runzelte er die Stirn. »Und du hast niemanden gesehen?«
»Keine Menschenseele. Ich war ganz allein. Aber als ich die
Weitere Kostenlose Bücher