Das Verlorene Labyrinth
machte die Augen auf und ließ die Arme sinken, die Hände bekümmert zu Fäusten geballt. Sie durfte auf keinen Fall Schwäche zeigen. Denn dann hätte Oriane ihr alles Wertvolle genommen. Die Zeit für Reue, für gegenseitige Vorwürfe würde noch kommen. Sie hatte ihrem Vater versprochen, das Buch zu schützen, und das war ihr im Augenblick wichtiger als ihr gebrochenes Herz. So schwer es ihr auch fiel, sie musste Guilhem aus ihren Gedanken verdrängen. Sie hatte sich in ihrem Zimmer einsperren lassen, weil Oriane etwas Bestimmtes gesagt hatte. Das dritte Buch. Oriane hatte gefragt, wo sie das dritte Buch versteckt hatte.
Alaïs lief zu dem Mantel hinüber, der noch immer über der Stuhllehne hing, hob ihn hoch und tastete die Stelle am Saum ab, wo sie das Buch eingenäht hatte.
Es war nicht mehr da.
Niedergeschlagen sank Alaïs auf den Stuhl und kämpfte gegen die Verzweiflung an. Oriane hatte Simeons Buch. Bald würde sie herausfinden, dass Alaïs sie angelogen hatte und das Buch nicht bei François war. Und dann würde sie zurückkommen.
Und was ist mit Esclarmonde?
Alaïs fiel auf, dass sie Guilhem nicht mehr draußen vor der Tür hörte.
Ist er jetzt bei ihr?
Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Aber es war ohnehin gleichgültig. Er hatte sie einmal hintergangen. Er würde es wieder tun. Sie musste ihre verletzten Gefühle in ihr gebrochenes Herz einschließen. Sie musste fliehen, solange noch Gelegenheit dazu war.
Alaïs riss das Lavendelsäckchen auf und nahm die Abschrift des Pergaments im Buch der Zahlen heraus, dann blickte sie sich ein letztes Mal in dem Raum um, von dem sie geglaubt hatte, er wäre für immer ihr Zuhause.
Sie wusste, dass sie nie wieder zurückkehren würde.
Dann ging sie mit klopfendem Herzen zum Fenster und spähte hinaus über das Dach. Ihre einzige Chance bestand darin, zu verschwinden, bevor Oriane wiederkam.
Oriane empfand nichts. Im flackernden Kerzenlicht stand sie am Fuß der Totenbahre und blickte hinab auf den Leichnam ihres Vaters.
Sie befahl den Wachen, sich zurückzuziehen. Dann bückte sie sich, als wollte sie die Stirn ihres Vaters küssen. Ihre Hand legte sich auf seine, und dann zog sie ihm den Labyrinth-Ring vom Daumen. Unglaublich, dass Alaïs so töricht gewesen war, den Ring an seiner Hand zu lassen.
Oriane richtete sich auf und schob ihn in ihren Beutel. Sie zupfte das Leichentuch zurecht, kniete vor dem Altar nieder und bekreuzigte sich, und dann machte sie sich auf die Suche nach François.
Kapitel 60
Alaïs setzte einen Fuß auf die Fensterbank und stieg hinaus auf den Sims. Bei dem Gedanken daran, was sie jetzt vorhatte, wurde ihr ganz schwindelig.
Du wirst abstürzen.
Und wenn schon, was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Ihr Vater war tot. Guilhem war für sie verloren. Letztlich hatte ihr Vater mit seiner Einschätzung des Charakters ihres Gemahls Recht behalten.
Ich habe ohnehin nichts mehr zu verlieren.
Alaïs atmete tief durch und ließ sich vorsichtig vom Sims herab, bis ihr rechter Fuß die Dachziegel berührte. Dann hauchte sie ein Gebet, spannte Arme und Beine an und ließ sich fallen. Sie landete mit einem dumpfen Aufprall. Die Füße glitten unter ihr weg. Alaïs warf sich nach vorn, als sie über die Dachpfannen abwärts rutschte. Verzweifelt suchte sie nach irgendeinem Halt. Risse in den Ziegeln, Lücken im Mauerwerk, irgendetwas, um nicht in die Tiefe zu stürzen.
Es kam ihr vor, als würde sie endlos rutschen. Plötzlich gab es einen heftigen Ruck, und Alaïs kam jäh zum Stillstand. Der Saum ihres Gewandes hatte sich an einem Nagel verfangen. Sie blieb ganz ruhig liegen, wagte es nicht, sich zu bewegen. Sie konnte die Spannung in dem Stoff spüren. Er war von guter Qualität, aber er war so straff gespannt wie eine Trommel und konnte jeden Moment reißen.
Alaïs schielte zu dem Nagel hinauf. Sie konnte ihn zwar erreichen, aber um den Stoff zu lösen, würde sie beide Hände benötigen. Und sie fürchtete, dann endgültig abzurutschen. Die einzige Möglichkeit war, den Stoff einfach loszureißen und dann zu versuchen, das Dach wieder hinaufzuklettern. Es stieß nämlich an die westliche Außenmauer des Chateau Comtal. Dort konnte sie sich vielleicht zwischen den Holzlatten der ambans hindurchzwängen. Die Lücken dazwischen waren zwar schmal, aber sie war dünn. Sie musste es versuchen.
Ganz vorsichtig, jede abrupte Bewegung vermeidend, hob Alaïs den Arm und zerrte an dem Stoff, bis er endlich einriss.
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