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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Sie zog zuerst an einer, dann an der anderen Seite, und schließlich blieb von dem Rock nur ein sauberes Rechteck am Nagel hängen. Sie war wieder frei.
    Sie schob zuerst ein Knie hoch und drückte es durch, dann das andere. Sie spürte, wie sich Schweiß auf der Stirn und zwischen den Brüsten bildete, dort, wo sie das Pergament versteckt hatte. Ihre Haut schürfte an den rauen Dachziegeln auf.
    Stück für Stück arbeitete sie sich höher, bis sie schließlich die ambans packen konnte.
    Alaïs streckte beide Hände aus und umfasste die Holzlatten, die sich beruhigend stabil anfühlten. Dann zog sie die Knie an und kauerte schließlich, eingezwängt in der Ecke zwischen Mauer und Wehrgang, fast auf dem Dach. Die Lücke war kleiner, als sie gehofft hatte, etwa so tief wie eine ausgestreckte Männerhand und rund dreimal so breit. Alaïs schob das rechte Bein hindurch, zog das linke unter den Körper, um Halt zu haben, und hievte sich dann durch die Lücke nach oben. Der Beutel mit der Abschrift der Labyrinth-Pergamente war nach unten gerutscht und baumelte ihr jetzt störend zwischen den Beinen, aber sie schaffte es.
    Ohne auf ihre schmerzenden Beine zu achten, erhob sie sich rasch und eilte die Barrikade entlang. Obwohl sie wusste, dass die Wachen sie nicht an Oriane verraten würden, wollte sie möglichst schnell raus aus dem Chateau Comtal und nach Sant- Nasari hinüberlaufen. Je schneller, desto besser.
    Alaïs spähte hinab, ob auch unten niemand war, dann kletterte sie die Leiter hinab. Als sie die letzten Sprossen sprang, knickten ihr bei der Landung die Beine ein, und sie krachte mit solcher Wucht auf den Rücken, dass ihr die Luft wegblieb.
    Sie blickte zur Kapelle hinüber. Weder Oriane noch François waren zu sehen. Alaïs drückte sich an den Mauern entlang, und als sie an den Stallungen vorbeikam, blieb sie kurz bei Tatou stehen. Sie selbst hatte schrecklichen Durst, und sie hätte auch ihrer leidenden Stute gern Wasser gegeben, doch der klägliche Rest, der noch da war, ging allein an die Schlachtrösser.
     
    Die Straßen waren voll mit Flüchtlingen. Alaïs hielt sich den Ärmel vor den Mund, um sich gegen den Gestank von Leid und Krankheit zu schützen, der wie ein Nebel in den Gassen hing. Verwundete Männer und Frauen, die alles verloren hatten, wiegten Kinder in den Armen und starrten mit hoffnungslosen leeren Augen zu ihr hoch, als sie vorbeilief.
    Auf dem Platz vor Sant-Nasari herrschte ein einziges Gedränge. Nach einem kurzen Blick über die Schulter, ob ihr auch niemand gefolgt war, zog Alaïs die Kirchentür auf und schlüpfte hinein. Im Mittelschiff hatten sich Menschen schlafen gelegt, und auch wer nicht schlief, hatte in seinem Elend kaum einen Blick für sie übrig.
    Auf dem Hauptaltar brannten Kerzen. Alaïs hastete durch das nördliche Querschiff zu einer wenig besuchten Seitenkapelle mit einem kleinen, schlichten Altar. Dort war ihr Vater vor einigen Tagen mit ihr hingegangen. Mäuse huschten in dunkle Ecken, ihre winzigen Krallen klickten über die Fliesen. Alaïs kniete sich hin und griff um den Altar herum, so wie er es ihr gezeigt hatte. Sie fuhr mit den Fingern über die Oberfläche der Wand. Eine aufgeschreckte Spinne krabbelte Alaïs über den Handrücken und verschwand wieder.
    Ein leises Klicken ertönte. Behutsam zog Alaïs den Stein heraus und schob ihn zur Seite, dann griff sie in die staubige Nische, die sich dahinter aufgetan hatte. Sie ertastete den langen, dünnen Schlüssel, dessen Metall in langen Jahren seltener Benutzung stumpf geworden war, und steckte ihn in das Schloss der hölzernen Gittertür. Die Angeln quietschten, als das Holz über den Steinboden kratzte.
    Sie spürte, dass ihr Vater ihr jetzt sehr nahe war. Alaïs biss sich auf die Lippen, um nicht zusammenzubrechen.
    Das ist das Einzige, was du jetzt noch für ihn tun kannst.
    Alaïs griff hinein und zog das Kästchen heraus, genau wie er es getan hatte. Es war nicht größer als eine Schmuckschatulle, schlicht und unverziert mit einem einfachen Verschluss. Sie hob den Deckel. Der Beutel aus Schafsleder war noch da. Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und merkte erst jetzt, wie groß ihre Furcht gewesen war, dass Oriane ihr doch irgendwie zuvorgekommen sein könnte.
    Ihr blieb nur wenig Zeit. Alaïs verbarg das Buch rasch unter ihrem Gewand und richtete alles wieder so her, wie es gewesen war. Falls Oriane oder Guilhem von dem Versteck wussten, dann würde es sie zumindest ein wenig

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