Das Verlorene Labyrinth
darf nicht fallen.«
»Ich gebe Euch mein Wort, eingedenk der Liebe und Treue, die so viele Jahre zwischen uns bestanden, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht.«
Pelletier versuchte die Hand von der Decke zu nehmen. »Es war eine Ehre, Euch zu dienen.«
Alaïs sah, dass dem Vicomte Tränen in den Augen standen. »Ich bin es, der Dank sagen sollte, mein alter Freund.«
Pelletier bewegte den Kopf. » Alaïs ?«
»Ich bin hier, Vater«, sagte sie rasch.
Die Farbe war jetzt gänzlich aus Pelletiers Gesicht gewichen. Die Haut lag ihm in grauen Falten um die Augen. »Kein Mann hat je eine solche Tochter gehabt.«
Er schien zu seufzen, als das Leben seinen Körper verließ. Dann Stille.
Einen Augenblick lang rührte sich Alaïs nicht, atmete nicht, zeigte keinerlei Reaktion. Dann spürte sie, wie eine wilde Trauer in ihr aufwallte, sie erfasste und Besitz von ihr nahm, bis sie in einem tränengeschüttelten Weinkrampf zusammenbrach.
Kapitel 59
E in Soldat erschien in der Tür. »Messire?«
Trencavel wandte den Kopf. »Was ist?«
»Ein Dieb, Messire. Hat am Place du Plö Wasser gestohlen.«
Er machte eine Geste, dass er gleich kommen würde. »Dame Alaïs , ich muss Euch allein lassen.«
Alaïs nickte. Sie war vom vielen Weinen erschöpft.
»Ich sorge dafür, dass er mit der Ehre und mit allen Würden bestattet wird, die seinem Rang zukommen. Er war ein tapferer Mann, ein treuer Ratgeber und ein wertvoller Freund.«
»Seine Kirche verlangt das nicht, Messire. Seine leibliche Hülle ist nichts. Sein Geist ist bereits fortgegangen. Er würde sich wünschen, dass Ihr an die Lebenden denkt.«
»Dann betrachtet es als einen selbstsüchtigen Akt meinerseits, dass ich Eurem Vater die letzte Ehre erweisen und damit die große Zuneigung und Wertschätzung bezeugen will, die ich für ihn empfand. Ich werde seinen Leichnam in die capela Sant-Maria bringen lassen.«
»Über einen solchen Beweis Eurer Liebe würde er sich sehr freuen.«
»Soll ich jemanden zu Euch schicken, der mit Euch Totenwache hält? Euren Gemahl kann ich nicht entbehren, aber vielleicht Eure Schwester. Braucht Ihr Hilfe, den Toten aufzubahren?« Ihr Kopf schnellte hoch, denn erst jetzt wurde ihr klar, dass sie nicht ein einziges Mal an Oriane gedacht hatte. Sie hatte sogar vergessen, ihr mitzuteilen, dass ihr Vater erkrankt war.
Sie hat ihn nicht geliebt.
Alaïs gebot der Stimme in ihrem Kopf Einhalt. Sie hatte ihre Pflicht vernachlässigt, sowohl ihrem Vater als auch ihrer Schwester gegenüber. Sie stand auf.
»Ich werde selbst zu meiner Schwester gehen, Messire.«
Sie verneigte sich, als er aus dem Zimmer ging, dann wandte sie sich wieder um. Sie brachte es nicht übers Herz, ihren Vater zu verlassen, und begann selbst damit, ihn aufzubahren. Sie ordnete an, das Bett frisch zu beziehen. Die schmutzigen Laken sollten verbrannt werden. Dann bereitete sie mit Rixendes Hilfe die Leichentücher und Öle vor. Sie wusch den Leichnam selbst und kämmte ihm das Haar aus der Stirn, sodass ihr Vater im Tod so aussah wie der Mann, der er im Leben gewesen war.
Als alles fertig war, blieb sie noch eine Weile bei ihm, blickte hinab in das leere Gesicht. Du kannst es nicht länger hinauszögern. »Teilt dem Vicomte mit, dass der Leichnam in die capela gebracht werden kann, Rixende. Ich muss meiner Schwester die Nachricht überbringen.«
Auf dem Boden vor Orianes Gemach lag Guirande schlafend auf dem Boden.
Alaïs trat über sie hinweg und griff nach der Klinke. Diesmal war die Tür unverschlossen. Oriane lag allein im Bett und hatte die Vorhänge zurückgezogen. Ihre zerzausten schwarzen Locken lagen ausgebreitet auf dem Kissen, und im Morgenlicht sah ihre Haut milchweiß aus. Alaïs wunderte sich, dass sie überhaupt schlafen konnte.
»Schwester!«
Oriane schlug ihre grünen Katzenaugen auf und blickte zuerst erschrocken, dann überrascht, ehe sich auf ihrem Gesicht der gewohnte herablassende Ausdruck einstellte.
»Ich habe eine schreckliche Nachricht«, sagte Alaïs . Ihre Stimme war tot, kalt.
»Hätte das nicht warten können? Es kann ja noch nicht mal Prim geläutet haben.« »Nein, hätte es nicht. Unser Vater ...« Sie stockte.
Wie können diese Worte wahr sein?
Alaïs holte tief Luft, um Kraft zu schöpfen. »Unser Vater ist tot.«
Oriane blickte schockiert, doch dann kehrte ihre übliche Miene zurück. »Was hast du gesagt?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen.
»Unser Vater ist heute Morgen verschieden. Kurz
Weitere Kostenlose Bücher