Das Verlorene Labyrinth
statt, um Tote, die in heiliger Erde bestattet worden waren, nachträglich als Ketzer zu verbrennen. Durch den Vergleich von Geständnissen mit halben Geständnissen breitete sich die Inquisition zur Ausrottung des Katharismus über alle Dörfer und Städte aus. Das Pays d'Oc wurde von einer fürchterlichen Flutwelle von Justizmorden überschwemmt. Gute, anständige Menschen wurden verurteilt. Aus Angst wandten sich Nachbarn gegen Nachbarn. Jede größere Stadt hatte ein Inquisitionsgericht, von Tolosa bis Carcassona. Nach der Verurteilung übergab der Inquisitor seine Opfer der weltlichen Gerichtsbarkeit, die sie einkerkerte, prügelte, verstümmelte oder verbrannte. Die Inquisition selbst machte sich die Hände nicht schmutzig. Nur wenige wurden freigesprochen. Und selbst wenn jemand freikam, musste er ein gelbes Kreuz auf der Kleidung tragen, das ihn als Ketzer brandmarkte.«
Eine Erinnerung flackerte in Alice auf. Wie sie durch einen Wald rennt, um Jägern zu entkommen. Wie sie hinfällt. Ein Stofffetzen, wie ein Herbstblatt, das von ihr wegschwebt, durch die Luft. Habe ich das geträumt?
Alice blickte in Audrics Gesicht und sah darin so viel Kummer, dass es ihr fast das Herz zerriss.
»Im Mai 1234 trafen die Inquisitoren in Limoux ein. Ein unglückliches Schicksal wollte es, dass Alaïs sich gerade mit Rixen- de dort aufhielt. In der Verwirrung - vielleicht hielt man sie irrtümlich für parfaites, zwei Frauen, die gemeinsam reisten - wurden sie festgenommen und nach Tolosa gebracht.«
Genau das war meine Befürchtung.
»Sie nannten nicht ihren richtigen Namen, daher dauerte es mehrere Tage, bis Sajhë erfuhr, was geschehen war. Er machte sich gleich auf den Weg zu ihnen, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. Doch das Glück war ihm nicht hold. Die Inquisitionsverhöre fanden meist in der Kathedrale von Sant-Sernin statt, also eilte er zunächst dorthin. Alaïs und Rixende waren jedoch nach Sant-Etienne gebracht worden.«
Alice hielt den Atem an, als sie sich an die Geisterfrau erinnerte, die von Mönchen in schwarzen Kutten weggezerrt wurde.
»Ich war dort«, brachte sie heraus.
»Die Gefangenen wurden unter entwürdigenden Bedingungen festgehalten. In dreckigen Kerkern, in die kein Sonnenstrahl drang, konnten sie Tag und Nacht nur an den Schreien der Gefolterten unterscheiden. Viele starben in den Gemäuern, während sie noch auf ihren Prozess warteten.«
Alice wollte etwas sagen, doch ihr Mund war zu trocken.
»Ist sie ...« Sie verstummte, unfähig weiterzusprechen.
»Der menschliche Geist kann viel ertragen, aber ist er einmal gebrochen, dann zerfällt er wie Staub. Und das war das Ziel der Inquisitoren. Sie brachen unseren Geist, so wie die Folterknechte Haut und Knochen zerfetzten, bis wir nicht mehr wussten, wer wir waren.« »Was geschah?«, sagte sie rasch.
» Sajhë kam zu spät«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Aber Guil- hem nicht. Er hatte gehört, dass eine Heilerin, eine Frau aus den Bergen, zur Vernehmung hergebracht worden war, und irgendwie konnte er sich denken, dass es Alaïs war, obwohl ihr Name nicht im Verzeichnis stand. Er bestach die Wachen, damit sie ihn durchließen - bestach sie oder drohte ihnen, ich weiß es nicht. Er fand Alaïs . Sie und Rixende wurden getrennt von den anderen festgehalten, und so gelang es ihm, sie aus Sant-Etienne und Tolosa hinauszuschmuggeln, bevor die Inquisitoren merkten, dass sie geflohen war.«
»Aber ...«
» Alaïs hatte immer den Verdacht, dass Oriane hinter ihrer Verhaftung steckte. Jedenfalls wurde sie nie verhört.«
Alice standen Tränen in den Augen. »Hat er sie ins Dorf zurückgebracht?«, fragte sie und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Kam sie wieder nach Hause?«
Baillard nickte. »Sie kam im agost zurück, kurz vor dem Himmelfahrtsfest, zusammen mit Rixende.« Er stieß die Worte geradezu hervor.
»Guilhem hatte sie nicht begleitet?«
»Nein«, sagte er. »Und sie sahen sich auch nicht wieder, bis ...« Er hielt inne. Alice spürte mehr, als dass sie es hörte, wie er den Atem einsog. » Alaïs ' Tochter kam sechs Monate später zur Welt. Alaïs nannte sie Bertrande, zum Andenken an ihren Vater Bertrand Pelletier.«
Audrics Worte schienen zwischen ihnen zu schweben.
Ein weiteres Puzzleteilchen.
»Guilhem und Alaïs «, raunte sie vor sich hin. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Stammbaum ausgebreitet auf Grace' Schlafzimmerboden in Salleles d'Aude liegen. Der Name Alaïs PELLETIER-du MAS
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