Das Verlorene Labyrinth
Alice auf seinen dünnen, geraden Rücken blickte, spürte sie in ihm eine Entschlossenheit, die zuvor nicht da gewesen war.
»Verraten Sie mir eines, Madomaisela Tanner«, sagte er und drehte sich zu ihr um. »Glauben Sie an Schicksal? Oder macht uns der Weg, für den wir uns entscheiden, letztlich zu dem, was wir sind?«
»Ich ...«, setzte sie an und hielte dann inne. Sie war nicht mehr sicher, was sie dachte. Hier, in diesen zeitlosen Bergen, hoch oben in den Wolken, kamen ihr die Alltagswelt und ihre Werte belanglos vor. »Ich glaube an meine Träume«, sagte sie schließlich.
»Glauben Sie, dass Sie Ihr Schicksal beeinflussen können?«, fragte er nach.
Alice merkte, dass sie unwillkürlich nickte. »Ansonsten wäre doch alles sinnlos. Wenn wir bloß einen vorbestimmten Weg gehen, dann wären alle Erfahrungen, die uns ausmachen - Liebe, Trauer, Freude, Lernen, Veränderung-, bedeutungslos.«
»Und Sie würden einen anderen Menschen nicht daran hindern, eigene Entscheidungen zu treffen.«
»Das käme auf die Umstände an«, sagte sie langsam, mit zunehmender Unruhe. »Warum?«
»Ich bitte Sie, sich das zu merken«, sagte er leise. »Mehr nicht. Damit Sie sich dran erinnern, wenn es so weit ist. Si es atal es atal.«
Seine Worte brachten etwas in ihr zum Klingen. Alice war sicher, dass sie sie schon einmal gehört hatte. Sie schüttelte den Kopf, doch die Erinnerung wollte nicht kommen.
»Es kommt, wie es kommen wird«, sagte er leise.
Kapitel 70
M onsieur Baillard, ich ...«
Audric hob eine Hand. »Benleu«, sagte er, kam zurück an den Tisch und nahm den Erzählfaden wieder auf, als wäre nichts gewesen. »Ich werde Ihnen alles erzählen, was Sie wissen müssen, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Sie öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder.
»Die Zitadelle auf dem Montsegur war überfüllt«, sagt er, »doch davon abgesehen war es eine glückliche Zeit. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte Alaïs sich in Sicherheit. Bertrande, inzwischen sieben Jahre alt, war bei den vielen Kindern beliebt, die innerhalb und außerhalb der Festung lebten. Auch Harif war trotz seines Alters und seiner Gebrechlichkeit guter Dinge. Er hatte viel Gesellschaft: Bertrande, die ihn entzückte, die parfaits, mit denen er über das Wesen Gottes und der Welt diskutieren konnte. Sajhë war die meiste Zeit an Alaïs ' Seite. Sie war glücklich.«
Alice schloss die Augen und ließ die Vergangenheit in ihrem Kopf lebendig werden.
»Es war ein gutes Leben, und es hätte so weitergehen können, wenn es nicht zu einem leichtfertigen Racheakt gekommen wäre. Im Mai 1242 erhielt Pierre-Roger de Mirepoix die Nachricht, dass vier Inquisitoren in dem Städtchen Avignonet eingetroffen waren. Es war daher abzusehen, dass wieder einmal parfaits und credentes festgenommen und auf den Scheiterhaufen geschickt würden. Er beschloss zu handeln. Entgegen dem Rat seiner Getreuen, darunter auch Sajhë , stellte er aus der
Garnison Montsegur einen Trupp von fünfundachtzig Rittern zusammen, eine Zahl, die noch anwuchs, als andere en route zu ihnen stießen.
Am 29. Mai trafen sie in Avignonet ein. Kurz nachdem der Inquisitor Guillaume Arnaud und seine drei Kollegen schlafen gegangen waren, schloss jemand aus dem Haus die Tür auf und ließ die Ritter herein. Die Türen zu den Schlafzimmern wurden eingetreten und die vier Inquisitoren samt ihrem Gefolge getötet. Sieben verschiedene chevaliers beanspruchten die tödlichen Hiebe für sich. Guillaume Arnaud soll mit dem Te Deum auf den Lippen gestorben sein. Sicher ist jedenfalls, dass seine Inquisitionsprotokolle geraubt und vernichtet wurden.«
»Das war doch bestimmt gut so.«
»Es war die letzte und entscheidende Provokation. Das Massaker löste eine rasche Reaktion aus. Der König verfügte, Montsegur ein für alle Mal zu zerstören. Eine Armee aus nordfranzösischen Adeligen, katholischen Inquisitoren, Söldnern und Kollaborateuren schlug am Fuße des Berges ihr Lager auf. Die Belagerung begann, doch die Männer und Frauen aus der Zitadelle kamen und gingen weiterhin ganz nach Belieben. Nach fünf Monaten hatte die Garnison lediglich drei Mann verloren, und es sah so aus, als würde die Belagerung scheitern.
Die Kreuzfahrer heuerten einen Trupp baskischer Söldner an, die zu Anfang des harten Gebirgswinters hinaufkletterten und nur einen Steinwurf von den Festungsmauern entfernt ihr Lager aufschlugen. Es bestand keine unmittelbare Gefahr, doch Pierre- Roger beschloss, seine
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