Das Verlorene Labyrinth
Winter zu bringen. Bertrande ... Sie durfte Alaïs bei der Zubereitung helfen und brachte Lieferungen zu den Familien.«
Sajhë geriet ins Stocken, dann verstummte er. Guilhem merkte, dass er selbst einen Kloß im Hals hatte. Er musste an die Fläschchen und Gläser denken, die Alaïs in ihrem Gemach im Chateau Comtal gesammelt hatte, an ihre stille Konzentration bei der Arbeit.
Sajhë ließ den Vorhang aus der Hand gleiten. Er rüttelte kurz versuchsweise an den Leitersprossen und stieg dann behutsam auf die obere Plattform. Von der Schlafstatt der Familie war nur noch ein Haufen aus alten Decken und verrottetem Stroh geblieben, von Schimmel zerfressen und von Tieren besudelt. Daneben stand eine einsame Kerze in erstarrten Wachsresten, und die verräterischen Rauchspuren zogen sich als ein einziger Fleck an der Wand dahinter hoch.
Guilhem ertrug es nicht, Sajhë s Trauer noch länger mit anzusehen, und er ging nach draußen, um dort zu warten. Er hatte kein Recht, ihn zu stören.
Einige Zeit später tauchte Sajhë wieder auf. Seine Augen waren gerötet, aber seine Hände waren ruhig, und er kam geradewegs auf Guilhem zu, der am höchsten Punkt des Dorfes stand und nach Westen blickte.
»Wann wird es morgens hell?«, fragte er, als Sajhë bei ihm war. Die beiden Männer waren gleich groß, doch die Falten in Guilhems Gesicht und die grauen Strähnen in seinem Haar verrieten, dass er dem Grab fünfzehn Jahre näher war.
»Um diese Jahreszeit geht die Sonne in den Bergen spät auf.« Guilhem schwieg einen Moment. »Was habt Ihr vor?«, fragte er, womit er Sajhë das Recht zugestand, von nun an die Führung zu übernehmen.
»Wir müssen die Pferde unterstellen und uns ein Plätzchen zum Schlafen suchen. Ich glaube nicht, dass sie vor morgen früh hier sein werden.«
»Ihr wollt nicht ...«, setzte Guilhem mit Blick auf das Haus an. »Nein«, sagte er rasch. »Dort nicht. Ich kenne eine Frau, die uns Essen und Unterkunft für die Nacht geben wird. Morgen müssen wir weiter den Berg hinauf und irgendwo in der Nähe der Höhle auf sie warten.«
»Ihr denkt, Oriane wird nicht ins Dorf kommen?«
»Sie wird sich inzwischen denken können, wo Alaïs das Buch der Wörter versteckt hat. In den letzten dreißig Jahren hatte sie genug Zeit, die anderen beiden Bücher zu studieren.«
Guilhem warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Und hat sie Recht? Ist es noch immer in der Höhle?«
Sajhë ging nicht auf die Frage ein. »Ich verstehe einfach nicht, wie Oriane Bertrande dazu gebracht hat, mit ihr zu kommen«, sagte er. »Ich habe ihr eingeschärft, dass sie ohne mich nirgendwo hingehen soll. Dass sie warten soll, bis ich sie hole.« Guilhem sagte nichts. Was hätte er auch sagen können, um die Ängste des jüngeren Mannes zu beschwichtigen? Sajhë s Zorn war jedoch schnell verflogen.
»Meint Ihr, Oriane hat die anderen beiden Bücher bei sich?«, fragte er unvermittelt.
Guilhem schüttelte den Kopf. »Ich vermute, die Bücher sind sicher in ihren Gewölben irgendwo in Evreux oder Chartres. Warum sollte sie das Risiko eingehen, sie hierher zu bringen?« »Habt Ihr sie geliebt?«
Die Frage kam völlig überraschend. »Ich habe sie begehrt«, sagte Guilhem langsam. »Ich war betört von ihr, kam mir furchtbar wichtig vor, ich ...«
»Nicht Oriane«, unterbrach Sajhë ihn, » Alaïs .«
Guilhem hatte das Gefühl, als schlösse sich ein eisernes Band um seine Kehle.
» Alaïs «, flüsterte er. Einen Augenblick lang rissen ihn die Erinnerungen mit, doch Sajhë s forschender Blick holte ihn zurück in die kalte Gegenwart.
»Nachdem ...« Seine Stimme war unsicher. »Nachdem Carcassona gefallen war, habe ich sie nur noch einmal gesehen. Sie blieb drei Monate bei mir. Sie war von den Inquisitoren verhaftet worden, und ...« »Ich weiß«, schrie Sajhë , dann schien seine Stimme in sich zusammenzufallen. »Ich weiß davon.«
Guilhem war Sajhë s Reaktion unbegreiflich, und er hielt den Blick geradeaus gerichtet. Zu seiner eigenen Verwunderung merkte er, dass er lächelte.
»Ja.« Das Wort schlüpfte ganz leicht aus seinem Mund. »Ich habe sie über alles geliebt. Ich habe einfach nicht verstanden, wie kostbar Liebe ist, wie zerbrechlich, bis ich sie mit eigenen Händen zerstört hatte.«
»Habt Ihr Alaïs deshalb gehen lassen? Als sie aus Toulouse hierher zurückkehrte?«
Guilhem nickte. »Nach diesen gemeinsamen Wochen war es bei Gott schwer, ihr fernzubleiben. Sie nur noch einmal zu sehen ... Ich hatte
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