Das Verlorene Labyrinth
hatte sich über ihn gesenkt, während sie noch immer nervös war, angstvoll an all die Dinge dachte, die schief gehen konnten, sich Sorgen machte, dass Noubel vielleicht zu spät kam, fürchtete, dass Audric sich doch geirrt haben könnte. Was, wenn sie schon tot sind?
Alice schob den Gedanken weit von sich. Sie durfte jetzt nicht so denken. Sie musste weiter daran glauben, dass alles gut werden würde.
Vor dem Eingang drehte Audric sich um, lächelte sie an, und seine gesprenkelten bernsteinfarbenen Augen strahlten vor Erwartung.
»Was haben Sie denn, Audric?«, fragte Alice rasch. »Da ist irgendwas ...« Sie brach ab, fand nicht die richtigen Worte. »Irgendwas ...«
»Ich habe lange Zeit gewartet«, sagte er leise.
»Gewartet? Dass Sie das Buch finden?«
Er schüttelte den Kopf. »Auf Erlösung«, sagte er.
»Erlösung? Aber wovon?« Erstaunt merkte Alice, dass sie Tränen in den Augen hatte. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht die Fassung zu verlieren. »Ich verstehe das nicht, Audric«, sagte sie mit zittriger Stimme.
»Pas a pas se va luenh«, sagte er. »Diese Worte haben Sie doch in der obersten Stufe zur Kammer eingemeißelt gesehen, nicht wahr?«
Alice blickte ihn verblüfft an. »Ja, aber woher wussten ... ?«
Er streckte die Hand nach der Taschenlampe aus. »Ich muss hineingehen.«
Alice kämpfte mit widersprüchlichen Gefühlen, aber sie reichte ihm die Lampe, ohne noch etwas zu sagen. Sie sah ihm nach, wie er den Tunnel hinunterging, und wartete, bis auch das letzte Fünkchen Licht verschwunden war. Erst dann wandte sie sich ab. Der Schrei einer Eule ganz in der Nähe ließ sie zusammenfahren. Das kleinste Geräusch schien hundertfach verstärkt zu werden. Etwas Unheilvolles lag in der Dunkelheit. Die Bäume, die ringsherum aufragten, der gewaltige Schatten des Berges selbst, die Art, wie die Felsen auf einmal fremde, bedrohliche Formen annahmen. Sie meinte, in der Ferne auf einer Straße irgendwo unten im Tal ein Auto zu hören.
Dann drang die Stille wieder auf sie ein.
Alice sah auf die Uhr. Es war zwanzig vor zehn.
Um Viertel vor zehn schwangen zwei starke Autoscheinwerferkegel auf den Parkplatz am Fuße des Pic de Soularac.
Paul Authié stellte den Motor ab und stieg aus. Verwundert stellte er fest, dass Fran^ois-Baptiste nicht auf ihn wartete. Authié schaute zur Höhle hoch und fragte sich plötzlich beunruhigt, ob sie vielleicht schon in der Kammer waren.
Er verwarf den Gedanken. Ihm gingen wohl allmählich die Nerven durch. Braissart und Domingo waren bis vor einer Stunde dort gewesen. Falls Marie-Cecile oder ihr Sohn aufgetaucht wären, hätte er das erfahren.
Seine Hand wanderte in seine Tasche zu dem Schaltkästchen, mit dem die Sprengladungen zur Detonation gebracht werden würden. Die Zeitzündung war bereits aktiviert. Er musste gar nichts tun. Bloß abwarten. Und Zusehen.
Authié umfasste das Kreuz an der Kette um seinen Hals und betete.
Ein Geräusch in dem Wald, der bis an den Parkplatz reichte, ließ ihn aufhorchen. Authié öffnete die Augen. Er konnte nichts sehen. Er ging zum Wagen und schaltete das Fernlicht ein. Die Bäume sprangen ihn förmlich aus der Dunkelheit an, aller Farbe beraubt.
Er kniff die Augen zusammen und spähte erneut in den Wald. Diesmal nahm er eine Bewegung im dichten Unterholz wahr. »Fran c ois-Baptiste?«
Keine Antwort. Authié merkte, wie sich ihm die kurzen Härchen im Nacken sträubten. »Wir haben keine Zeit für solche Späßchen«, rief er in die Dunkelheit hinein und legte dabei einen gereizten Tonfall in seine Stimme. »Wenn Sie das Buch und den Ring haben wollen, kommen Sie raus, damit ich Sie sehen kann.«
Authié erfassten erste Zweifel, ob er die Situation vielleicht falsch eingeschätzt hatte.
»Ich warte«, rief er laut.
Diesmal tat sich etwas. Er unterdrückte ein Lächeln, als zwischen den Bäumen eine Gestalt auftauchte.
»Wo ist O'Donnell?«
Fast hätte Authié laut aufgelacht, als er Frangois-Baptiste auf sich zukommen sah. Er trug ein Jackett, das ihm etliche Nummern zu groß war. Er sah lächerlich aus.
»Sind Sie allein?«, fragte er.
»Das geht Sie einen Dreck an«, sagte Fran c ois-Baptiste und blieb am Waldrand stehen. »Wo ist Shelagh O'Donnell?«
Authié deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Höhle. »Die wartet schon da oben auf Sie, Fran c ois-Baptiste. Ich dachte, ich erspare Ihnen die Mühe.« Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Ich glaube kaum, dass sie Ihnen Ärger machen
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