Das Verlorene Labyrinth
konnten.
Als sie näher kamen, ballte Sajhë die Fäuste, um nicht vor Zorn laut aufzuschreien. Auf der Wange des Kindes war eine Schnittwunde, die rot in dem weißen starren Gesicht leuchtete. Oriane hatte Bertrande einen Strick um den Hals gebunden, der über den Rücken hinunter zu den gefesselten Händen verlief. Das andere Ende des Stricks hatte Oriane in der linken Hand. In der rechten hielt sie einen Dolch, mit dem sie Bertrande immer wieder in den Rücken piekste, um sie anzutreiben.
Bertrande ging unbeholfen und stolperte häufig. Dann bemerkte Sajhë unter den Röcken das Seil zwischen ihren Knöcheln, das ihr nur ganz kleine Schritte erlaubte.
Sajhë zwang sich, ruhig zu bleiben, abzuwarten, bis sie die Lichtung direkt unterhalb der Höhle erreichten.
»Du hast gesagt, es wäre gleich hinter den Bäumen.«
Bertrande murmelte etwas, aber so leise, dass Sajhë nichts verstand.
»Ich hoffe für dich, dass du die Wahrheit sagst«, entgegnete Oriane.
»Es ist da vorn«, sagte Bertrande. Ihre Stimme klang ruhig, doch Sajhë konnte trotzdem die nackte Angst heraushören, und sein Herz verkrampfte sich.
Sie hatten geplant, Oriane am Höhleneingang zu überrumpeln. Sajhë sollte Bertrande aus Orianes Reichweite schaffen, und Guilhem würde sie entwaffnen, ehe sie dazu kam, ihr Messer zu benutzen.
Sajhë schaute zu Guilhem hinüber, der ihm mit einem Nicken signalisierte, dass er bereit war.
»Aber Ihr dürft da nicht rein«, sagte Bertrande gerade. »Es ist ein heiliger Ort. Den dürfen nur die Hüter betreten.«
»Ach ja?«, höhnte Oriane. »Wer will mich denn daran hindern? Du etwa?« Ein verbitterter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. »Du bist ihr so ähnlich, dass es mich anwidert«, sagte sie und zog ruckartig an dem Seil, sodass Bertrande vor Schmerz aufschrie. » Alaïs hat auch immer allen gesagt, was sie zu tun haben. Hat sich immer für was Besseres gehalten.«
»Das stimmt nicht«, rief Bertrande, die trotz ihrer hoffnungslosen Lage nicht den Mut verlor. Sajhë betete, dass sie sich zügelte. Alaïs wäre stolz auf sie, das wusste er. Genau wie er stolz auf sie war. Sie war wahrhaftig das Kind ihrer Eltern. Bertrande hatte angefangen zu weinen. »Es ist nicht richtig. Ihr dürft da nicht reingehen. Es wird Euch daran hindern. Das Labyrinth wird sein Geheimnis schützen. Vor Euch und jedem anderen, der zu Unrecht danach strebt.«
Oriane stieß ein kurzes Lachen aus. »Mit solchen Geschichten jagt man nur dummen kleinen Mädchen wie dir Angst ein.« Bertrande ließ sich nicht einschüchtern. »Ich führe Euch nicht mehr weiter.«
Oriane hob die Hand und schlug Bertrande so heftig ins Gesicht, dass sie nach hinten gegen einen Felsen prallte. Ein roter Nebel füllte Sajhë s Kopf. Mit drei, vier Schritten stürzte er sich mit mörderischem Gebrüll auf Oriane.
Oriane reagierte zu schnell für ihn. Sie zerrte Bertrande auf die Beine und presste ihr das Messer an die Kehle.
»Wie ärgerlich. Ich dachte, mein Sohn hätte das kleine Problem aus der Welt geschafft. Ihr wart schließlich Gefangener - so hat man mir zumindest gesagt -, aber sei's drum.«
Sajhë lächelte Bertrande an, um ihr Mut zu machen.
»Lasst das Schwert fallen«, sagte Oriane ruhig, »oder ich töte sie.«
» Sajhë , es tut mir Leid, dass ich dir nicht gehorcht habe«, rief Bertrande, »aber sie hatte deinen Ring. Und sie hat gesagt, du hättest sie geschickt, um mich zu holen.«
»Nicht meinen Ring, brava«, sagte Sajhë . Er ließ das Schwert fallen. Es fiel laut scheppernd auf den harten Boden.
»Schon besser. Und jetzt komm näher, damit ich dich besser sehen kann. Das reicht. Halt.« Sie lächelte. »So ganz allein?« Sajhë sagte nichts. Oriane drückte Bertrande die Klinge fester gegen die Kehle und brachte ihr dann einen kleinen Schnitt unter dem Ohr bei. Bertrande schrie auf, und ein Blutfaden rann ihr den Hals herab, wie ein rotes Band auf der blassen Haut. »Lass sie los, Oriane. Es geht dir doch um mich, nicht um sie.«
Als Alaïs Stimme erklang, schien selbst dem Berg der Atem zu stocken.
Ein Geist? Guilhem hätte es nicht sagen können.
Er hatte das Gefühl, als wäre ihm die Luft aus dem Körper gesaugt worden, hätte ihn hohl und schwerelos zurückgelassen. Er wagte es nicht, aus seinem Versteck zu kommen, weil er Angst hatte, die Erscheinung zu vertreiben. Er blickte Bertrande an, die ihrer Mutter so ähnlich sah, und dann den Hang hinunter zu der Stelle, wo Alaïs stand, wenn sie es denn
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