Das Verlorene Labyrinth
Berichte, mein Onkel habe sich einem derart entwürdigenden Ritual unterworfen, dass es mich beschämt, davon zu sprechen. Ich ließ die Gerüchte überprüfen. Sie entsprachen der Wahrheit. In der großen Kathedrale von Saint-Gilles war der Comte in Anwesenheit des päpstlichen Legaten wieder in die katholische Kirche aufgenommen worden. Er wurde bis auf die Hüfte entkleidet, trug einen Büßerstrick um den Hals und ließ sich von den Priestern geißeln, während er auf allen vieren herumkroch und um Vergebung flehte.«
Trencavel schwieg einen Moment, um seine Worte wirken zu lassen.
»Durch diese schändliche Demütigung wurde er wieder in die Arme der heiligen Mutter Kirche aufgenommen.« Ein verächtliches Raunen breitete sich im Saal aus. »Aber das ist noch nicht alles, meine Freunde. Ich bin sicher, dass er mit diesem schimpflichen Schauspiel bezweckte, die Kraft seines Glaubens und seine Ablehnung der Häresie zu beweisen. Doch selbst das genügte offenbar nicht, um die Gefahr abzuwenden, die er kommen gesehen hatte. Er hat die Herrschaft über seine Gebiete an die Legaten Seiner Heiligkeit des Papstes abgetreten. Und heute erfuhr ich ...« Er stockte. »Heute erfuhr ich, dass Raymond, Com- te de Toulouse, mit einigen hundert Männern in Valence ist, nicht ganz eine Woche Fußmarsch von hier entfernt. Er wartet nur auf das Zeichen, um die Invasoren aus dem Norden bei Beaucaire über den Fluss in unsere Lande zu führen.« Er schwieg kurz. »Er hat das Kreuz der Kreuzfahrer genommen. Hohe Herren, er hat vor, gegen uns zu marschieren.«
Endlich brandete ein Sturm der Empörung durch den Saal. »Si- lenci «, brüllte Pelletier vergeblich, bis seine Kehle heiser war. »Ruhe. Bitte, Ruhe!«
Es war ein ungleicher Kampf, eine Stimme gegen so viele.
Der Vicomte trat bis an den Rand des Podestes, stellte sich genau unter das Wappen der Trencavel. Seine Wangen waren gerötet, doch Kampfeslust leuchtete ihm aus den Augen, und Trotz und Mut spiegelten sich auf seinem Gesicht. Er breitete die Arme aus, als wollte er den Saal und alle darin umarmen. Sofort trat Ruhe ein.
»Und so stehe ich heute vor euch, meine Freunde und Verbündeten, im alten Geist der Ehre und Treue, der uns an unsere Brüder bindet, um euren guten Rat einzuholen. Uns, den Männern des Midi, stehen nur zwei Wege offen, und wir haben nur sehr wenig Zeit, um zu entscheiden, welchen wir einschlagen sollen. Die Frage ist einfach. Per Carcassona!« Für Carcassonne. »Per lo Miegjorn.« Für die Lande des Midi. »Müssen wir uns unterwerfen? Oder sollen wir kämpfen?«
Als Trencavel sich erschöpft von der Anstrengung in seinen Sessel sinken ließ, schwoll der Lärm im Saal erneut an.
Pelletier konnte nicht anders. Er beugte sich vor und legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter.
»Gut gesprochen, Messire«, sagte er leise. »Vortrefflich, mein Herr.«
Kapitel 7
S tunde um Stunde tobte die Debatte.
Diener hasteten hin und her, holten Körbe mit Brot und Trauben, Platten mit Fleisch und weißem Käse, füllten immer und immer wieder große Krüge Wein nach. Niemand aß viel, aber dafür wurde reichlich getrunken, was den Zorn schürte und die Urteilskraft schwächte.
Das Leben außerhalb des Chateau Comtal nahm weiter seinen gewohnten Gang. Die Kirchenglocken schlugen die Andachtsstunden an. Die Mönche sangen, und die Nonnen beteten zurückgezogen in Sant-Nasari. Auf den Straßen von Carcassonne gingen die Menschen der Stadt ihren Geschäften nach. In den Vororten und Hütten unterhalb der Festungsmauern spielten Kinder, Frauen arbeiteten, Händler und Bauern und Handwerker der Gilden aßen und plauderten und vertrieben sich die Zeit mit Würfelspielen.
Im Großen Saal wurden vernünftige Argumente zunehmend von Beleidigungen und Vorhaltungen verdrängt. Eine Seite wollte Standhaftigkeit zeigen. Die andere sprach sich für ein Bündnis mit dem Comte von Toulouse aus, mit der Begründung, dass gegen eine so große Armee wie die in Lyon, falls die Schätzungen zutrafen, selbst mit vereinten Kräften nichts auszurichten war.
Jedermann hörte bereits die Kriegstrommeln im Kopf schlagen. Manche stellten sich Ehre und Ruhm auf dem Schlachtfeld vor, das Klirren von Stahl auf Stahl. Andere sahen die Berge und Ebenen mit Blut bedeckt, sahen einen endlosen Strom von verarmten und verletzten Menschen besiegt durch das brennende Land taumeln.
Pelletier wanderte unentwegt in der Halle auf und ab, hielt Ausschau nach Anzeichen für
Weitere Kostenlose Bücher