Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
gegeben, aber voll jugendlicher Naivität. Jetzt, am Ende seiner mittleren Lebensjahre, war alles komplizierter geworden. Er hatte sich hier in Carcassonne ein anderes Leben geschaffen. Er hatte andere Bindungen, liebte andere Menschen und diente anderen.
    Erst jetzt wurde ihm klar, wie felsenfest er sich eingeredet hatte, dass der Augenblick der Erfüllung seiner Pflicht nicht mehr zu seinen Lebenszeiten kommen würde. Dass er nie gezwungen werden würde, sich zwischen seiner Treue und Freundschaft zu Vicomte Trencavel und seiner Pflicht gegenüber der Noublesso entscheiden zu müssen.
    Niemand konnte zwei Herren ehrenhaft dienen. Wenn er tat, was Harif von ihm verlangte, musste er den Vicomte in der Stunde größter Not im Stich lassen. Doch jeder Augenblick, den er an Raymond-Rogers Seite blieb, wäre eine Verweigerung seiner Pflicht gegenüber der Noublesso.
    Pelletier las den Brief erneut, betete darum, dass ihm eine Lösung einfiel. Diesmal stachen ihm bestimmte Worte, bestimmte Formulierungen ins Auge. »E uer Bruder erwartet Euch in Be siers.«
    Damit konnte Harif nur Simeon meinen. Aber in Beziers? Pelletier hob den Becher an die Lippen und trank, ohne etwas zu schmecken. Wie seltsam, dass Simeon ihm nach vielen Jahren der Abwesenheit gerade heute mit solcher Macht in den Sinn gekommen war.
    Eine Laune des Schicksals ? Zufall ? Pelletier glaubte weder an das eine noch an das andere. Aber wie war dann das Grauen zu erklären, das ihn erfasst hatte, als Alaïs die Leiche des Mannes beschrieb, der ermordet im Wasser der Aude trieb? Es gab keinen Grund für die Befürchtung, dass es Simeon wäre, und doch war er sich so sicher gewesen.
    Und dann: »Eure Schwester in Carcassona.«
    Verwundert malte Pelletier mit der Fingerspitze ein Muster in die dünne Staubschicht auf dem Holztisch. Ein Labyrinth.
    Sollte Harif eine Frau zur Hüterin gemacht haben? War sie die ganze Zeit hier in Carcassonne gewesen, direkt vor seiner Nase? Er schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein.

Kapitel 9
     
    A laïs stand am Fenster und wartete auf Guilhems Rückkehr. Der Himmel über Carcassonne war ein tiefes, samtenes Blau und breitete einen weichen Mantel über das Land. Der trockene Abendwind aus dem Norden, der Cers, wehte sanft aus den Bergen herab, brachte die Blätter der Bäume und das Schilf am Ufer der Aude zum Rascheln, trug die Verheißung kühlerer Luft in sich.
    In Sant-Miquel und Sant-Vicens leuchteten einzelne Lichter. In den gepflasterten Straßen der Cité wimmelte es von Menschen, die aßen und tranken, Geschichten erzählten und Lieder von Liebe und Tapferkeit und Abschied sangen. Gleich um die Ecke vom Hauptplatz brannten noch immer die Feuer der Schmiede. Warten. Immerzu warten.
    Alaïs hatte sich die Zähne mit Kräutern eingerieben, um sie weißer zu machen, und sie hatte ein kleines Duftkissen mit Vergissmeinnicht am Halsausschnitt in ihr Kleid eingenäht. Der Raum war erfüllt vom süßen Aroma brennender Lavendelzweige.
    Die Versammlung des Rates war schon seit einiger Zeit zu Ende, und Alaïs hatte mit Guilhems Kommen gerechnet, zumindest mit einer Nachricht von ihm. Gesprächsfetzen trieben von unten aus dem Hof zu ihr hoch wie Rauchfahnen. Sie sah kurz den Mann ihrer Schwester Oriane, Jehan Congost, über den Hof hasten. Sie zählte sieben oder acht chevaliers des Hofes und ihre écuyers, die zielstrebig zur Schmiede eilten. Zuvor hatte sie ihren Vater bemerkt, wie er mit einem kleinen Jungen schimpfte, der an der Kapelle herumgelungert hatte.
    Keine Spur von Guilhem.
    Alaïs seufzte. Sie war verärgert, weil sie die ganze Zeit über vergebens hier in ihrem Gemach gewartet hatte. Sie drehte sich um, ging ziellos vom Tisch zum Stuhl und wieder zurück, ihre unruhigen Finger suchten nach irgendeiner Beschäftigung. Sie blieb vor ihrem Webrahmen stehen und starrte auf den kleinen Zierteppich für Frau Agnès, an dem sie gerade arbeitete, ein kompliziertes Muster aus wilden Tieren und langschwänzigen Vögeln vor einer Burgmauer. Normalerweise fand Alaïs Trost in derlei zarter Handarbeit, wenn das Wetter oder ihre Aufgaben am Hof sie zwangen, in ihrem Gemach zu bleiben.
    Heute Abend jedoch konnte sie sich mit nichts beruhigen. Die Nadeln steckten unberührt in dem Rahmen, das Garn, das Sajhë ihr geschenkt hatte, lag noch eingepackt daneben. Die Tinkturen, die sie früher am Tag aus Brustwurz und Beinwell zubereitet hatte, waren säuberlich beschriftet und standen auf einem Regalbrett in der kühlsten und

Weitere Kostenlose Bücher