Das Verlorene Labyrinth
Nerven zu beruhigen, und in seinem Kopf überschlugen sich angestaubte Bilder, Erinnerungen an das Heilige Land und die langen roten Schatten der Wüste. An die drei Bücher und das uralte Geheimnis, das ihre Seiten bargen.
Der deftige Wein schmeckte sauer auf der Zunge und rann ihm schmerzhaft durch die Kehle. Er leerte den Becher in einem Zug und füllte ihn erneut. Viele Male hatte er sich vorzustellen versucht, wie er sich in diesem Augenblick fühlen würde. Und jetzt, wo der Augenblick endlich gekommen war, fühlte er sich taub.
Pelletier setzte sich, legte den Brief auf den Tisch und die Hände flach daneben. Er wusste, was darin stand. Es war die Botschaft, die er seit vielen Jahren erwartet und gefürchtet hatte, seit er nach Carcassonne gekommen war. In jener Zeit war das blühende und aufgeschlossene Land des Midi ein scheinbar sicheres Versteck gewesen.
Und dann, während Jahr für Jahr verging, hatte Pelletier immer weniger damit gerechnet, irgendwann gerufen zu werden. Der Alltag hatte sein Leben bestimmt. Die Gedanken an die Bücher waren aus seinem Kopf gewichen. Am Ende hatte er fast vergessen, dass er überhaupt auf etwas wartete.
Über zwanzig Jahre waren vergangen, seit er den Verfasser des Briefes zuletzt gesehen hatte. Bis jetzt, so wurde ihm klar, hatte er nicht einmal gewusst, ob sein Lehrer und Mentor noch lebte. Denn Harif war es gewesen, der ihn im Schatten der Olivenhaine auf den Hügeln vor den Toren Jerusalems lesen gelehrt hatte. Harif war es, der seine Sinne für eine Welt geöffnet hatte, die herrlicher war, wunderbarer war als alles, was Pelletier je gekannt hatte. Harif war es, der ihn darüber aufgeklärt hatte, dass Sarazenen, Juden und Christen alle nur unterschiedliche Pfade zu dem einen Gott beschritten. Und Harif war es, der ihm offenbart hatte, dass jenseits von allem Wissen eine Wahrheit lag, die viel älter, ehrwürdiger und absoluter war als alles, was die Welt seiner Zeit zu bieten hatte.
Die Nacht von Pelletiers Aufnahme in die Noublesso de los Ser es stand ihm noch so deutlich und klar vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Die schimmernden goldfarbenen Gewänder und das gebleichte Weiß des Altartuches, so blendend wie die Festungen, die auf den Bergen oberhalb von Aleppo zwischen Zypressen und Orangenhainen leuchteten. Der Duft des Weihrauchs, das Auf und Nieder der Stimmen, die in der Dunkelheit raunten. Erleuchtung.
In jener Nacht, die eine Ewigkeit zurücklag, wie es Pelletier inzwischen erschien, hatte er in das Herz des Labyrinths geblickt und geschworen, das Geheimnis mit seinem Leben zu schützen. Er zog die Öllampe näher heran. Selbst wenn das Siegel nicht wäre, hätte er keinen Zweifel daran, dass der Brief von Harif war. Seine Handschrift war unverwechselbar, die Eleganz der Buchstaben und die exakten Proportionen.
Pelletier schüttelte den Kopf, versuchte die Erinnerungen zu vertreiben, die ihn zu überwältigen drohten. Er holte tief Luft, schob dann das Messer unter das Siegel. Das Wachs riss mit einem leisen Knacken auf. Er strich das Pergament glatt.
Der Brief war kurz. Oben auf dem Blatt waren die Symbole, die Pelletier an den gelben Wänden der Labyrinth-Höhle in den Bergen außerhalb der Heiligen Stadt gesehen hatte. Es waren Schriftzeichen der alten Sprache von Harifs Ahnen, und außer den Eingeweihten der Noublesso verstand sie niemand mehr.
Pelletier sprach die Wörter laut, und ihr vertrauter Klang beruhigte ihn. Dann las er Harifs Brief.
Fraire,
es ist Zeit. Dunkelheit senkt sich über dieses Land. Schreckliches liegt in der Luft, etwas Böses, das alles Gute zerstören und verderben wird. Die Texte sind in den Ebenen des Pays d'Oc nicht mehr sicher. Es ist Zeit, die Trilogie wieder zu vereinen. Euer Bruder erwartet Euch in Besiers, Eure Schwester in Carcassona. Euch fällt die Aufgabe zu, die Bücher an einen sichereren Ort zu bringen.
Zaudert nicht. Die Sommerpässe nach Navarra werden an Toussaints geschlossen sein, vielleicht auch früher, wenn der Schnee früh kommt. Ich werde Euch zum Festtag von Sant Miquel erwarten.
Pas a pas, se va luenh.
Der Stuhl knarrte, als Pelletier sich jäh zurücklehnte. Es war nicht mehr, als er erwartet hatte. Harifs Anweisungen waren klar. Er verlangte nur das, was Pelletier einmal geschworen hatte. Und doch fühlte er sich, als wäre ihm die Seele aus dem Leib gesaugt worden und hätte eine hohle Leere hinterlassen.
Seinen Schwur, die Bücher zu hüten, hatte er freiwillig
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