Das Verlorene Symbol
›Heiligmachens‹ war einst Gesetz gewesen. Von den alten Hebräern, die im Tempel Brandopfer darbrachten, über die Mayas, die auf den Pyramiden von Chichén Itzá Menschen köpften bis hin zu Jesus Christus, der sein Blut am Kreuz darbot – die Alten verstanden Gottes Forderung nach Opfern. Ein Opfer, oder in diesem Zusammenhang besser Sacrificium , war das ursprüngliche Ritual, mit dessen Hilfe die Menschen sich die Gunst der Götter erwarben und sich selbst heiligten.
Sacrum – heilig.
Facere – machen.
Obwohl der Opferritus schon vor Jahrhunderten aufgegeben worden war, blieb seine Macht bestehen. Doch eine Handvoll moderner Mystiker, unter ihnen Aleister Crowley, hatte diese Kunst praktiziert, sie mit der Zeit perfektioniert und sich selbst nach und nach in etwas Anderes, Größeres transformiert. Andros sehnte sich danach, sich auf die gleiche Weise zu verändern. Er wusste natürlich auch, dass er dabei eine gefährliche Brücke überschreiten musste.
Blut trennt das Licht von der Dunkelheit.
Eines Nachts flog eine Krähe durch Andros' offenes Badezimmerfenster und fand nicht mehr aus seiner Wohnung heraus. Andros beobachtete, wie der Vogel eine Zeit lang herumflatterte und sich dann niederließ, als hätte er sein Schicksal akzeptiert, nicht entkommen zu können. Andros hatte mittlerweile genug gelernt, um ein Zeichen zu erkennen. Ich werde gedrängt!
Er packte den Vogel mit einer Hand, ging zu dem selbst errichteten Altar in der Küche und ergriff ein scharfes Messer. Dabei sprach er laut die Beschwörung, die er auswendig gelernt hatte.
» Camiach, Eomiahe, Emial, Macbal, Emoii, Zazean … bei den heiligsten Namen der Engel im Buch der Himmel beschwöre ich dich, auf dass du mir durch die Macht des Einen Wahren Gottes bei dieser Tat zur Hand gehst.«
Nun nahm Andros das Messer wieder herunter und stach vorsichtig in die Vene am rechten Flügel des panisch zuckenden Vogels. Die Krähe begann zu bluten. Während Andros beobachtete, wie die rote Flüssigkeit in den Metallkelch tropfte, den er als Auffangbehälter benutzte, spürte er eine unerwartete Kälte in der Luft. Trotzdem machte er weiter.
»Allmächtiger Adonai, Arathron, Ashai, Elohim, Elohi, Elion, Asher Eheieh, Shaddai … sei meine Hilfe, auf dass dieses Blut mit Macht in allem wirken möge, was ich will, und allem, was ich verlange.«
In jener Nacht träumte Andros von einem gewaltigen Phönix, der sich aus einem lodernden Feuer erhob. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war er von einer Energie erfüllt, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr verspürt hatte. Er joggte durch den Park, weiter und schneller, als er es je für möglich gehalten hätte. Anschließend machte er unzählige Liegestütze und Kniebeugen. Und immer noch war seine Kraft nicht erschöpft.
In der Nacht darauf träumte er abermals vom Phönix.
Der Herbst hatte im Central Park Einzug gehalten, und die Tiere huschten umher auf Suche nach Nahrung für den Winter. Andros verabscheute die Kälte, und doch quollen seine sorgfältig versteckten Fallen von Ratten und Eichhörnchen über. Er trug die noch lebenden Tiere in einem Rucksack nach Hause und vollzog immer kompliziertere magische Rituale.
Emanual, Massiach, Yod, He, Vaud … ich bitte euch: Erachtet mich als würdig.
Die Blutrituale nährten Andros' Lebenskraft. Er fühlte sich mit jedem Tag jünger. Und Tag und Nacht las er: antike mystische Texte, mittelalterliche Gedichte, die frühen Philosophen. Je mehr er über die wahre Natur der Dinge erfuhr, desto deutlicher wurde ihm, dass für die Menschheit alle Hoffnung verloren war. Sie sind blind … Sie wandern ziellos durch eine Welt, die sie nie begreifen werden.
Andros war immer noch ein Mensch, doch er fühlte, dass er sich zu etwas anderem entwickelte. Zu etwas Größerem. Etwas Heiligem. Seine kraftvolle Physis war wieder aus dem Schlaf erwacht, machtvoller denn je. Und endlich verstand er den wahren Zweck seines Leibes. Mein Körper ist nur ein Gefäß für meinen machtvollsten Schatz … meinen Geist.
Andros wusste, dass sein wahres Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft war, und so setzte er seine Suche fort. Was ist mein Schicksal? Die alten Texte sprachen von Gut und Böse … und von der Notwendigkeit, dass der Mensch sich zwischen beiden entscheiden müsse. Ich habe meine Wahl schon vor langer Zeit getroffen. Doch Andros bereute nichts. Was ist das Böse, wenn nicht ein Naturgesetz? Dunkelheit folgt auf das Licht, Chaos
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