Das Verlorene Symbol
ein großes Steinmedaillon an der Wand. »Sieh nur, Robert.«
Langdon fuhr zusammen, als er das Relief sah.
Es stellte eine furchterregende, verhüllte Gestalt mit einer Sense dar, die neben einem Stundenglas kniete. Ein Arm war erhoben, und der ausgestreckte Zeigefinger deutete auf eine aufgeschlagene Bibel, wie um zu sagen: »Die Antwort liegt hier!«
Langdon nahm das Bild in sich auf, ehe er seinen Mentor anschaute.
Peters Augen leuchteten; er war in seinem Element. »Ich möchte, dass du dir etwas vor Augen führst, Robert.« Der Satz hallte durch den tiefen Treppenschacht. »Was glaubst du, warum die Bibel zweieinhalb Jahrtausende bewegter Geschichte überdauert hat? Warum gibt es sie noch? Weil ihre Geschichten so fesselnd sind? Nein. Es hat einen anderen Grund, weshalb christliche Mönche ihr ganzes Leben damit verbringen, die Bibel zu studieren, und jüdische Mystiker und Kabbalisten über dem Alten Testament brüten. Der Grund ist der, dass in den Seiten dieses Buches bedeutende Geheimnisse verborgen liegen … ein immenses Reservoir an Weisheit, das nur darauf wartet, enthüllt zu werden.«
Langdon war die Theorie bekannt, wonach die biblischen Texte eine noch unentdeckte Überlieferungsschicht enthielten, mit einer Botschaft, die sich in Allegorien, Symbolik und Parabeln hüllte.
»Im Alten Testament heißt es, dass Gott zu Moses von Mund zu Mund, zu den anderen aber ›durch dunkle Worte oder Gleichnisse‹ redet. In den Sprüchen Salomons wird gesagt, die Reden der Weisen seien Rätsel. Im Markusevangelium heißt es: ›Euch ist das Geheimnis gegeben … aber es wird euch in Gleichnissen zuteil.‹ Im Johannesevangelium steht: ›Ich werde zu euch in Gleichnissen reden … und in dunklen Worten sprechen‹, und der zweite Korintherbrief sagt, dass wir auf Erden ›durch einen Spiegel in einem dunklen Wort‹ sehen.«
In einem dunklen Wort, wiederholte Langdon im Stillen und dachte daran, wie oft dieser Ausdruck in den Sprüchen Salomons vorkam, aber auch im Psalm 78: »Ich will meinen Mund auftun zu Sprüchen, will dunkle Worte verkünden aus der Vorzeit.« Dabei bedeuteten die ›dunklen Worte‹ nichts Düsteres, Böses, sondern lediglich, dass ihre wahre Bedeutung verhüllt war.
»Und wenn du noch Zweifel hast«, fügte Peter hinzu, »die Korintherbriefe sagen ganz unverhüllt, dass die Gleichnisse zwei Bedeutungsebenen haben: Milch für Säuglinge und Fleisch für die Erwachsenen – wobei die Milch eine verwässerte Lesart für kindliche Gemüter ist und das Fleisch die wahre Botschaft, die nur vom erwachsenen Verstand erfasst werden kann.«
Peter hob den Lichtkegel noch einmal auf die verhüllte Gestalt, die auf die Bibel zeigte. »Ich weiß, du bist skeptisch, Robert, aber bedenke eins: Wenn die Bibel keine verborgene Bedeutung hat, warum haben sich dann die besten Köpfe der Geschichte – einschließlich der Royal Society – so leidenschaftlich ihrem Studium hingegeben? Sir Isaac Newton schrieb mehr als eine Million Worte in dem Versuch, die wahre Bedeutung der biblischen Texte zu entschlüsseln. Darunter ist eine Handschrift aus dem Jahre 1704, aus der hervorgeht, dass er sogar wissenschaftliche Informationen aus der Bibel gewonnen hat.«
Langdon nickte; er kannte Newtons Versuche, die Bibel zu entschlüsseln.
»Und Sir Francis Bacon«, erklärte Peter weiter, »der von König Jakob I. den Auftrag erhielt, unsere Bibel – die King James Bible – übersetzen zu lassen, war so sehr von der Existenz einer verborgenen Bedeutung überzeugt, dass er einen eigenen Code hineinschrieb, der heute noch erforscht wird. Wie du weißt, war Bacon Rosenkreuzer und verfasste die Schrift Die Weisheit der Alten.« Peter lächelte. »Selbst der tiefgläubige Dichter William Blake wies darauf hin, dass wir zwischen den Zeilen lesen sollten.«
Langdon kannte den Vers: Both read the Bible day and night , / But thou read'st black where I read white . ›Beide lesen die Bibel Tag und Nacht, / Aber wo du schwarz liest, lese ich weiß.‹
»Und es waren nicht nur die großen Geister Europas«, sagte Peter und stieg jetzt schneller die Treppe hinunter, »die vor einer wörtlichen Interpretation der Bibel gewarnt haben. Gleiches galt auch hier, Robert, im Herzen der vergleichsweise jungen amerikanischen Nation, wo einige unsere klügsten Köpfe – John Adams, Benjamin Franklin, Thomas Paine – eine solche Ansicht vertraten. Thomas Jefferson war so sehr davon überzeugt, die wahre Botschaft der
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