Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
Achariten.
Zumindest war Er das vor den Widrigkeiten der vergangenen Wochen gewesen.
Der alte Mann war bis vor kurzem der mächtige Bruderführer des Seneschalls gewesen, der älteste Vermittler
zwischen Artor dem Pflüger und den Herzen und Seelen
der Achariten. Aber jetzt war er nurmehr der Vermittler
zwischen seiner eigenen zerbrochenen Seele und den
Geistern seiner Träume und ehrgeizigen Ziele. Hatte
Jayme einst Könige wie Bauern beeinflußt, so beherrschte er heutzutage bestenfalls noch die Schnallen seiner
Sandalen. Früher hatte der Kirchenfürst im mächtigen
Turm des Seneschalls residiert. Heute nahmen die
Unaussprechlichen das Gebäude für sich in Anspruch
und hatten das über mehr als tausend Jahre angesammelte
Wissen der Kirche verbrannt. Früher war ihm die Macht
wie eine zweite Haut gewesen und er hatte sich von der
Kraft des militärischen Flügels der Seneschallbruderschaft, den Axtschwingern und ihrem General, dem
Axtherrn, ausreichend geschützt fühlen dürfen …
Aber inzwischen hatten die Axtschwinger ihre Waffen
abgelegt, um den gräßlichen Unaussprechlichen zu
dienen, und sein ehemaliger Axtherr nahm für sich in
Anspruch, ein Prinz der geflügelten Kreaturen zu sein.
Axis, sein letzter General und Axtherr. Jayme hatte
ihn wie einen Sohn behandelt, aber er hatte nicht nur
seine Liebe zu ihm, sondern auch zum Seneschall
verraten, als er die Unaussprechlichen zurück nach Achar
geführt hatte.
Jayme hatte sich einmal der Freundschaft und Unterstützung seines ältesten Beraters, Moryson, erfreut. Aber
nun war auch Moryson abtrünnig geworden.
Langsam erhob sich der alte Mann auf die Knie und
musterte die Kammer, in die man ihn vor neun Tagen
eingesperrt hatte. Viel hatten die Schergen Axis’ ihm
nicht gelassen. Ein einzelner hölzerner Stuhl und ein
einfacher Tisch. Eine Matratze und ein Laken. Sonst
nichts. Der Krieger befürchtete, Jayme könne womöglich
versuchen, sich umzubringen, und so hatten Wachsoldaten alles bis auf das Allernötigste aus dem Raum entfernt.
Zweimal am Tag kamen Wachen, um Essen zu bringen
und sich um alles andere Notwendige zu kümmern, aber
die restliche Zeit war Jayme allein.
Abgesehen von zwei Besuchern. Seine Augen wurden
trübe, als er sich an sie erinnerte.
Zwei Tage nach dem Tod Bornhelds im Mondsaal,
Achars letzter Hoffnung, hatte ihn Prinzessin Rivkah
aufgesucht …
Lautlos betrat sie den Raum, und Jayme bemerkte ihre
Anwesenheit erst, als er sich aus seiner Andacht vor dem
geheiligten Bildnis Artors erhob.
In dem Moment, als er sich umdrehte und sie entdeckte, wurde sein Mund trocken. Nie im Leben hätte er
damit gerechnet, dieser Frau noch einmal gegenüberzustehen. Vor vielen Jahre hatten er und Moryson sie
eigentlich dem sicheren Tod überlassen.
Endlos, so schien es ihm, stand Rivkah einfach nur
da und starrte in an. Ganz gegen seinen Willen
bemerkte Jayme den Widerspruch zwischen ihrer
stolzen Haltung und seiner eigenen buckligen und
unterwürfigen Gestalt. Wie ist es möglich, dachte er,
daß die Frau, die Achar und Artor so sehr geschadet
hat, hier auftreten kann, als sei die Gerechtigkeit auf
ihrer Seite? Wie kommt es, daß sie in all ihrer Schönheit und in ihrer königlichen Haltung vor mir stehen
kann, wenn doch alles, was Moryson und ich am Fuße
der Eisdachalpen niederlegten, eine gebrochene und
todwunde Frau gewesen war. Artor, warum hast Du
zugelassen, daß sie überlebt? Warum, Artor? Artor,
bist Du da?
»Warum?« fragte Rivkah endlich.
Er war selbst überrascht, als er mit verhältnismäßig
lauter Stimme antwortete: »Wegen all des Unrechts, das
Ihr Eurem Gemahl, Eurem Land und Eurem Gott
zugefügt habt, Rivkah. Ihr hattet es nicht verdient, am
Leben zu bleiben.«
»Ich war diejenige, der Unrecht angetan wurde, Jayme«, erwiderte sie. »Dennoch habt Ihr gewollt, daß ich
eines entsetzlichen Todes sterbe. Ihr hattet, und daran
erinnere ich mich noch gut, nicht den Mut, mir ein
Messer in die Kehle zu stoßen.«
»Das ist Morysons Einfall gewesen«, erwiderte Jayme.
»Er dachte, es sei am besten, Ihr würdet an einem Ort
sterben, der weit genug von jeder Besiedlung entfernt
lag, auf daß Eure Knochen nicht jene beeinflussen
könnten, die Artor fürchten.«
»Dennoch habt Ihr meinen Sohn am Leben gelassen.«
»Er trug keine Schuld an dem Bösen, das Ihr angerichetet hattet – jedenfalls glaubte ich das zu jener Zeit.
Damals wußte ich noch nicht, wer ihn gezeugt hatte.
Hätte ich
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