Das Vermächtnis
sondern Fähigkeiten, die jede gewöhnliche Eule besitzt!
Ich stimmte Siv insofern zu, dass sie selbst keine magischen Fähigkeiten hatte. Eine „gewöhnliche“ Eule war sie deshalb noch lange nicht. Tatsächlich war ihre Charakterstärke, ihr Ga’, außergewöhnlich. Und diese Charakterstärke würde schon in Kürze abermals auf die Probe gestellt werden.
Siv war klar, dass Arrin zurückkommen würde. Er würde abwarten, bis der Fjord zugefroren wäre, und das würde bald der Fall sein. Die Stunden, in denen die Sonne schien, wurden immer weniger, die Tage immer kürzer. Die warme Strömung, die den Fjord eisfrei hielt, hatte die Richtung geändert und floss jetzt nach Westen, als verfolgte sie die letzten Sonnenstrahlen. Wenn das Wasser erst vollständig von Eis bedeckt war, würde der Fürst mit seinem Gefolge zurückkehren – mit einer Schar struppiger, zähnefletschender, gelbäugiger Dämonen.
Siv war noch nicht kräftig genug, um längere Flugstrecken zu bewältigen. Sie musste wohl oder übel bleiben, wo sie war. Würde sie sich gegen die Hägsdämonen wehren können, wenn diese wiederkamen? Um sich nicht von ihrem magischen Licht überwältigen zu lassen, bedurfte es nicht körperlicher, sondern seelischer Stärke.
Svenka blieb verschwunden. Das überraschte Siv nicht. Svenka hatte ihr erzählt, dass Bärenmütter sehr lange zusammen mit ihren Jungen in der Wurfhöhle blieben. Die Mütter fütterten ihre Kinder mit einer weißen Flüssigkeit, die „Milch“ hieß. Außerdem mussten sie die Kleinen wärmen, weil diese so gut wie ohne Fell geboren wurden.
Doch eines späten Nachmittags erwachte Siv davon, dass die Eisschollen im Fjord laut knirschten und knackten. Das konnte nur Svenka sein! Siv stürzte aus ihrer Höhle, und tatsächlich – die riesige Bärin bahnte sich gelassen und zielstrebig ihren Weg durch das Treibeis. Hinter ihr tat sich ein gezacktes Band offenen Wassers auf.
„Svenka! Was machst du denn hier?“
„Ich wollte nur mal kurz vorbeischauen.“
„Wie geht es deinen Kindern? Sind es Weibchen oder Männchen?“ Siv konnte ihre Aufregung kaum bezähmen. Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus. „Wie sehen sie aus? Sehen sie dir ähnlich?“
„Glaub schon. Allerdings kann ich mich kaum noch an ihren Vater erinnern.“ Die Gleichgültigkeit, mit der Svenka vom Vater ihrer Kinder zu sprechen pflegte, konnte Siv nicht nachvollziehen. Aber so war das eben bei den Eisbären. Wenn sie sich paarten, blieben sie nicht ihr Leben lang zusammen, wie es bei Eulen üblich war.
„Es waren drei. Aber eins ist gestorben.“
„Das tut mir leid“, sagte Siv betroffen.
„Ist nicht so schlimm.“
Siv sah Svenka überrascht an.
„Weißt du, normalerweise bekommen wir Eisbärinnen nur zwei Junge“, sagte Svenka. „Wenn es ausnahmsweise drei sind, besteht immer die Gefahr, dass eins zu schwach ist, um am Leben zu bleiben. Nur weil das dritte gestorben ist, konnte ich die beiden anderen kurz allein lassen, um dich zu besuchen.“
„Wieso das?“
„Ich habe Eins und Zwei unter den Leichnam von Drei gesteckt. Er war noch warm. So kühlen die beiden nicht aus.“
Diese Mitteilung musste Siv erst einmal verdauen. Dann fragte sie: „Hast du deinen Kindern denn keine Namen gegeben? Nennst du sie einfach nur Eins, Zwei und Drei?“
„Vorläufig ja.“
„Warum?“
„Eisbärenkinder bekommen erst Namen, wenn sie die ersten drei Monate überlebt haben. Auf diese Weise wachsen sie der Mutter nicht so ans Herz.“
„Ach so.“
„Aber ich habe meine beiden trotzdem schon ins Herz geschlossen. Sie sind unglaublich süß! Zwei hat so ein niedliches Stupsnäschen, und Eins ist ein neugieriger kleiner Kerl, der alles ausprobieren will. Deshalb muss ich auch bald wieder zurück. Die beiden können zwar noch nicht laufen und schwimmen, aber ich traue Eins zu, dass er trotzdem irgendwelchen Unsinn anstellt. Aber sag mir doch noch, wie es dir geht.“
Siv erzählte der Bärin, dass sie annahm, dass der Fürst zurückkommen würde. Sie vertraute Svenka auch ihre Erkenntnisse über die Magie der Dämonen an.
Svenka legte die Tatzen auf den Rand des Eisbergs und hörte aufmerksam zu. Als Siv geendet hatte, schwiegen beide lange.
Dann sagte Svenka: „Was du über Hägsmagie gesagt hast, ist sehr interessant. Auch ich hatte das Gefühl, dass die Dämonen ihre Opfer mit dem gelben Licht vor allem in Staunen versetzen wollen. Wenn man abgelenkt ist, können sie einen leichter
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