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Das Vermaechtnis

Das Vermaechtnis

Titel: Das Vermaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Scherer-Kern
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Die Entscheidung für den Weg des Meisters und darüber hinaus geschieht in dem Bewusstsein, dass die innere Einstellung, die sie nach und nach gewinnen, nicht einfach an einer Haustür abzustellen ist. So übernehmen sie, wenn alle zusammen am Tisch sitzen, die Segnung des Essens. Das ist verbunden mit einer kurzen Ruhe, Besinnung und Dank. Dann wird fröhlich gegessen und erzählt, über die Erlebnisse des Tages.
    Der Tag endet für die Novizen mit dem Sonnenuntergangsritual , welches sie heute im Tempel durchführen. Dazu gehen sie hoch auf den überdachten Tempelturm, von wo sie einen traumhaften Rundum-Blick haben. Wenn das Wetter unangenehm ist, halten sie beide Zeremonien dort oben ab, morgens und abends. Drei Mal in einer Jahressequenz gehen sie auch zum Sonnenuntergangsritual ans Meer. Dazu müssen sie quer über die Landzunge zur anderen Seite gehen und planen dann auch den Nachmittagsunterricht dort sowie das gemeinsame Essen. Oft kommen auch die Familien dorthin und es gibt ein großes gemeinsames Picknick am Strand mit einer abschließenden gemeinsamen Sonnenuntergangszeremonie .
    Das Sonnenuntergangsritual ist schlicht. Dennoch ist es wichtig, um den Tag abzurunden, indem man noch einmal in sich schaut. Heute sind ausnahmsweise nicht Aleyna und Burgon die Ritualsleiter, sondern Hanaskea und Kyr . Alle freuen sich darauf, denn Kyr wird singen. Sie stehen dem Westen zugewandt, der untergehenden Sonne.
    Hanaskea und Kyr stehen vor ihnen und entzünden eine Abendräucherung. Hanaskea beginnt mit leisen Trommelrhythmen. Kyr beginnt zunächst ganz leise zu summen, sodass man ihn kaum hört. Man kann spüren, wie sich jede Aufmerksamkeit in diesem Raum auf seine Stimme konzentriert. Dann nimmt er Hanaskeas Hand. Vor lauter Hingabe verpassen die anderen ganz den Einsatz in den gemeinsamen Sprechgesang, sodass Hanaskea und Kyr den Vers erst einmal allein singen. Keiner hat bislang Hanaskea singen gehört. Sie hat stets abgestritten, überhaupt einen Ton treffen zu können, aber jetzt, plötzlich, zusammen mit Kyr , singt sie. Eine zarte Stimme, zu ihrem Wesen passend, weich und schön. Kyr , einfühlsam wie er ist, passt sich sofort ihrer Stimme an. Eine perfekte Harmonie entsteht – alle starren, staunen, sind ergriffen. Nachdem die beiden den Vers nun schon zum dritten Mal allein gesungen haben, werden nun alle anderen von den beiden Priesterlehrern aufgefordert beziehungsweise aus ihrer Trance wachgerufen und alle stimmen gemeinsam in den Sprechgesang ein:
    „Kraft der Sonne, des Feuers, wir danken dir.
    Wir danken den Kräften der Erde, des Wassers und der Luft
    für diesen unser Leben bereichernden Tag.
    Möge Luna in der Nacht unsere Begleiterin sein,
    uns schöne Träume schicken und
    besonders den Kindern den Weg
    in ihrem Schlaf beleuchten.“
    Kyr und Hanaskea drehen sich zu den anderen um und sprechen:
    „Gesegnet seien euer Schlaf und eure Träume.“
    Sie verneigen sich einander. Doch bevor sich alle vor innerer Aufregung wegen dieses wundervollen Gesang-Duos Luft machen und aufdrehen können, geben Tanobakt und Elieanor noch eine Zeit der inneren Ruhe vor. So beruhigen sich die inneren Gemüter wieder. Für kurze Zeit. Sie sind eben noch relativ jung, eben noch nicht ganz erwachsen und über die ungestüme Zeit noch nicht ganz hinweg. Kaum, dass sie aus dem Tempel sind, reden natürlich sofort alle bunt durcheinander und belagern die beiden Sänger.
    Seit sie gesungen haben, halten sie sich an der Hand. Eine tiefe Verbindung umgibt die beiden, die ihre gegenseitige Sympathie bis zum heutigen Tag nicht ein einziges Mal offen gezeigt haben. Alle freuen sich mit ihnen. Alle fangen an zu singen, sogar Choi stimmt ein, laut – und völlig falsch. Er bemerkt es, als Salana ihn anschaut und dabei leicht ihren Kopf wiegt, was einfach so ihre Eigenart ist, wenn sie nachdenkt oder sich still freut, und verstummt augenblicklich. Aber sie sagt sofort und lächelt ihn dabei liebevoll an:
    „Sing, wir singen alle, ist doch egal, wie’s klingt. Ist doch schön!“
    Dann nimmt sie seine Hand und geht singend mit ihm, neben ihm weiter. Choi aber scheint das Herz stehen geblieben zu sein. Bis zu Salanas Haus bringt er keinen Ton mehr heraus. Obgleich sich schon alle verabschiedet haben, lässt er Salanas Hand nicht los und läuft wie ferngesteuert neben ihr her.
    „Oh, bin ich glücklich“, bringt er dann endlich über seine Lippen und lacht. Salana lacht ebenfalls, und sie wackelt dabei unmerklich ein wenig

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