Das Vermaechtnis
erreicht habe. Ich bin ein Greis, alt, meine Leuchtkraft und wärmende Kraft haben stark nachgelassen. Ich kann meine mir zugedachte Aufgabe nicht mehr voll erfüllen und bedarf einer Erneuerung. Wie jede große Erneuerung geht auch diese, eine der größten weltlichen Erneuerungen überhaupt, nicht ohne eine Erneuerung im Innern. Äußerliche und innerliche Erneuerungen bedingen sich gegenseitig.
Und vorweg greifen möchte ich, dass ich diese nächtliche Reise, die Fahrt durch das Jenseits, nicht ohne all meine Götterfreunde schaffen würde. Es kommen Situationen, in denen ich völlig dem Zusammenspiel aller ausgesetzt bin. Ohne das tiefe große Vertrauen, das ich in euch alle habe, würde ich scheitern! Auch wenn es hier hauptsächlich um mich geht, so bin ich nicht erhabener als ihr, sondern auf gleicher Stufe mit euch, jeder spielt seine Rolle. An dieser Stelle mein tiefster göttlicher Dank an alle Beteiligten!“
Diese Worte waren wie Honig für alle. Honig ist süß und schmeckt gut, Honig klebt auch. Durch diese Worte des Dankes klebten alle noch stärker zusammen und hielten auch zusammen. Das wussten sie, das liebten sie. Dafür waren alle da, millionenfach erprobt.
„Folgt mir nun auf meiner Fahrt in meiner Barke durch die zwölf Nachtstunden der Unterwelt.
Diese Fahrt ist ganz klar gegliedert und vollzieht sich jede Nacht nach der gleichen Struktur. Ich sinke nun des Abends ermüdet von meinem Tagewerk durch das Tor des Westhorizonts in die Welt des Jenseits hinab.
Es beginnt die erste Stunde .
Mit meiner Barke und meinem Gefolge halten wir uns kurze Zeit im Zwischenreich auf, welches die diesseitige und die jenseitige Welt klar trennt. Auch, um sicher zu gehen, dass kein Unbefugter die Jenseits- oder Nachtwelt betritt. Seth steht am Ufer. Doch selbst hier, wo die ersten Chaosmächte, die Sonnenfeinde des Apophis schon herrschen, gibt die schöpferische Ordnung die Struktur vor. So ist es festgelegt. Ma’at begleitet mich. Hier werde ich bei meiner Ankunft von den Sonnenpavianen jubelnd mit Musik und Tanz begrüßt. Gleich einem Fest speien Uräus-Schlangen Feuer und spenden damit Licht.
Unzählig viele Gottheiten verehren mich hier, beten mich an, begleiten mich. Alle Uferbewohner werden von mir natürlich mit Essen versorgt, mit Gerste für Brot, mit Bier und auch Flachs für Kleidung. Solch ein Empfang erleichtert meine Weiterfahrt. So fahre ich in meiner Barke, mit allen seligen Toten und den unzähligen Gottheiten über den Unterweltstrom in die Tiefe der Unterwelt hinab. Die Lebenden wissen stets schon, dass sie neben mir in meiner Barke reisen dürfen, unter meinem Schutz und dem Schutz aller Gottheiten, um so sicher den Ort des Friedens zu erreichen. Mich erkennt man am Widderkopf, welcher meine Ba -Seele verbildlichen soll. Sie ist die seelische Gestalt, die, die gerne reist, in der ich jetzt in die Tiefen herabsteige. Gleich schon wandle ich mich zur Morgensonne, dem Chepris - oder auch Skarabäus -Käfer. Damit zeige ich eindeutig, wo die Reise hingeht, nämlich zu meiner Erneuerung in der Tiefe der Unterwelt und damit zu meiner Wiedergeburt. An meiner Seite sind Ma’at , Hathor und Osiris .
Wir durchfahren die Pforte zur zweiten Stunde .
Wir erreichen das fruchtbare Binsengefilde. Kaum, dass ich erscheine, fängt alles Leben an. Das Korn reift und die Versorgung im Jenseits ist allen garantiert. Hier sind die vielen Gottheiten, die für die Verstorbenen sorgen. Das ist der Einstieg, die Basis für unser Unternehmen. Dazu gehören noch meine Kraft, denn die Uferbewohner erwachen zu Leben, wenn ich an ihnen vorbeiziehe, und meine Lebensfülle, welche Hathor als meine Begleiterin symbolisiert, als Göttin der Liebe, der Ausgelassenheit, der Mütterlichkeit, des Spieles und Tanzes, und allen bekannt durch das jährliche fröhliche Hathor -Fest. Natürlich auch Isis und Nephtys , die hier als Schlangen neben mir reisen, sodass ich schließendlich allen den Segen der Regeneration bringen kann, meiner Regeneration und somit die Regeneration aller. So wie im Diesseits, so möge es auch im Jenseits weitergehen, das ist der Wunsch von allen. Dafür unternehme ich diese Reise, um das zu gewähren.
Aber wir wollen nicht überschwänglich werden und den Boden verlieren, daher der Doppelkopf zur Mahnung: Horus und Seth , die Kontrahenten, die Vereinigung der Gegensätze zu einem Ganzen. Dessen wollen wir stets gewahr sein, dass jedes Ding zwei Seiten besitzt, auch jeder Mensch und jeder Gott.
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